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E s war alles so leicht gewesen, so natürlich, so bar jeden Zweifels oder Nervosität, sogar ohne bewusstes Nachdenken. Und jetzt lauschte sie in dem sanften Morgenlicht in ihrem Bett dem Rauschen der Dusche und dachte in einer verträumten Mischung aus Erinnerung und halb zu Ende gesprochenen Sätzen an die zurückliegende Nacht.
»Ich dachte, du stehst nur auf hirnlose Blondinen.«
»Die waren nicht alle hirnlos. Und du bist auch blond.«
Sie hatte erwidert: »Hellbraun, nicht gelbblond.«
Da hatte er sich ihr wieder zugewandt und seine Hände durch ihr Haar gleiten lassen, eine unerwartete Geste, nicht nur weil sie langsam und zärtlich war.

S
ie hatte damit gerechnet, dass Piers ein erfahrener und geübter Liebhaber wäre, nicht aber damit, wie unkompliziert und unangestrengt ihre ausgelassene Sinnlichkeit war. Sie hatten lachend und lustvoll miteinander geschlafen. Und hinterher, als sie ein wenig voneinander entfernt in ihrem Doppelbett lagen und sie seinen Atem hörte und die Wärme spürte, die von ihm ausging, war es ihr ganz natürlich erschienen, dass er da war. Sie wusste, dass diese Nacht ein wenig den harten Kern aus Selbstzweifel und Trotz aufgeweicht hatte, den sie wie ein Gewicht auf dem Herzen trug und der nach dem Macpherson-Report zusätzlich von dem bitteren Gefühl, verraten worden zu sein, verstärkt worden war. Der zynische und politisch hellsichtigere Piers hatte wenig Verständnis gezeigt.
»Jeder offizielle Untersuchungsausschuss weiß doch genau, zu welchem Ergebnis er kommen soll. Weniger Intelligente schießen dabei leicht übers Ziel hinaus. Es ist lächerlich, deswegen seinen Job aufzugeben oder sich davon sein Selbstbewusstsein oder seinen Seelenfrieden rauben zu lassen.«
Dalgliesh hatte sie mit viel Taktgefühl und mitunter auch wortlos davon überzeugen können, nicht den Dienst zu quittieren. Ihr war jedoch bewusst, dass ihr Enthusiasmus, ihre Hingabe und die naive Begeisterung, mit der sie in den Polizeidienst eingetreten war, im Laufe der letzten Jahre immer weiter versiegt waren. Nach wie vor war sie eine geschätzte und tüchtige Polizistin. Sie liebte ihren Beruf und konnte sich keinen anderen vorstellen, für den sie qualifiziert oder geeignet gewesen wäre. Aber inzwischen graute ihr davor, sich zu stark gefühlsmäßig zu engagieren. Sie war zu sehr darauf bedacht, sich selbst zu schützen, begegnete dem Leben und seinen Möglichkeiten mit zu viel Argwohn. Doch als sie nun allein im Bett lag und die schwachen Geräusche wahrnahm, die Piers machte, während er in ihrer Wohnung hantierte, empfand sie eine fast vergessene Freude.

Sie war als Erste wach geworden, und zum ersten Mal ohne die rudimentäre Angst ihrer Kindheit. Eine halbe Stunde lang hatte sie still die Zufriedenheit ihres Körpers genossen, das heraufdämmernde Licht beobachtet, die ersten Geräusche des Tages auf dem Fluss wahrgenommen, ehe sie ins Bad geschlichen war. Die Bewegung hatte ihn geweckt. Er hatte sich gerührt, eine Hand nach ihr ausgestreckt und sich dann ruckartig aufgesetzt, wie ein zerzauster Springteufel. Sie hatten beide gelacht. In der Küche hatte er die Orangen gepresst, während sie Tee kochte, und später waren sie mit ihrem warmen gebutterten Toast hinaus auf den Balkon getreten und hatten die Krusten an kreischende Möwen verfüttert, ein Wirbelsturm aus schlagenden Flügeln und schnappenden Schnäbeln. Dann waren sie wieder ins Bett gegangen.
Das Rauschen und Plätschern der Dusche hatte aufgehört. Jetzt wurde es wirklich Zeit aufzustehen und sich dem Tag zu stellen. Sie hatte gerade die Beine aus dem Bett geschwungen, da klingelte ihr Handy. Es riss sie aus ihrer Trägheit, als hätte sie es noch nie zuvor gehört. Piers kam aus der Küche, ein Handtuch um die Hüfte geschlungen, Kaffeekanne in der Hand. Sie stöhnte: »Mein Gott! Wie aufs Stichwort.«
»Ist vielleicht privat.«
»Nicht auf dem Handy.«
Sie streckte die Hand nach dem Nachttisch aus, nahm das Telefon, lauschte aufmerksam, sagte: »Ja, Sir«, und beendete die Verbindung. Sie wusste, dass ihrer Stimme die Aufregung anzuhören war, als sie sich zu ihm wandte: »Ein neuer Fall. Vermutlich Mord. Eine Insel vor der Küste Cornwalls. Das bedeutet Hubschrauber. Ich soll mein Auto hier lassen. AD schickt jemanden, um Benton und dann mich abzuholen. Wir treffen uns am Battersea Heliport mit ihm.«
»Dein Spurensicherungskoffer?«
Sie war schon in Aktion, bewegte sich rasch, wusste genau, was in welcher Reihenfolge getan werden musste. Von der Badezimmertür aus rief sie: »Der ist im Büro. AD kümmert sich darum, dass er im Wagen ist.«
Er sagte: »Wenn er einen Wagen schickt, mach ich lieber, dass ich wegkomme. Da muss nur Nobby Clark am Steuer sitzen und mich sehen, dann weiß im Handumdrehen die ganze Fahrer-Mafia Bescheid. Ich finde, wir sollten denen nicht unbedingt frischen Stoff für den Kantinenklatsch liefern.«

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inuten später warf Kate ihre Segeltuchtasche aufs Bett und begann, schnell und methodisch zu packen. Wie üblich würde sie eine Wollhose mit Tweedblazer und einen Kaschmir-Rollkragenpullover tragen. Selbst wenn das milde Wetter anhielt, wäre Leinen oder Baumwolle die falsche Wahl - auf einer Insel war es selten zu warm. Zuunterst kamen robuste Wanderschuhe und ein Satz Unterwäsche zum Wechseln, die täglich gewaschen werden konnte. Dann verstaute sie einen zweiten warmen Pullover in der Tasche und legte noch eine Seidenbluse dazu, sorgfältig zusammengerollt. Obendrauf kamen ein Pyjama und ihr wollener Morgenrock. Sie packte ihren zweiten Kulturbeutel dazu, der immer mit den Toilettenartikeln bestückt war, die sie brauchte. Schließlich stopfte sie zwei frische Notizblöcke, etliche Filzstifte und ein halb gelesenes Taschenbuch hinein.
Fünf Minuten später waren sie beide angezogen und abmarschbereit. Sie begleitete Piers in die Tiefgarage. An der Tür seines Alfa Romeo küsste er sie auf die Wange und sagte: »Danke für deine Gesellschaft beim Dinner, danke fürs Frühstück, danke für alles dazwischen. Schick mir eine Ansichtskarte von deiner geheimnisvollen Insel. Ein kurzer Satz würde genügen - und mehr als genügen, wenn er wahr wäre. ÝSchade, dass du nicht bei mir bist, in Liebe, Kate.Ü«
Sie lachte, entgegnete aber nichts. Der Vauxhall, der vor ihm aus der Garage rollte, hatte einen Sticker am Rückfenster, Baby an Bord. Das hatte Piers schon immer auf die Palme gebracht. Er hob grüßend die Hand und war weg.

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ate sah ihm nach, bis er mit einem letzten Abschiedshupen zügig auf die Straße fuhr. Und prompt erfasste sie ein anderes, weniger kompliziertes, dafür altbekanntes Gefühl. Ganz gleich, was für Probleme sich aus dieser außergewöhnlichen Nacht ergeben würden, das Nachdenken darüber würde warten müssen. Irgendwo lag ein bislang nur vorgestellter Körper in der kalten Abstraktion des Todes. Eine Gruppe von Menschen wartete auf die Ankunft der Polizei, manche von ihnen bedrückt, die meisten ängstlich, und einer von ihnen empfand gewiss wie sie diese berauschende Mischung aus Aufregung und Entschlossenheit. Es hatte ihr stets zu denken gegeben, dass erst jemand sterben musste, damit sie in diese von einem vagen Schuldgefühl beeinträchtigte Hochstimmung versetzt wurde. Und es würde wieder den Teil geben, der ihr am meisten Freude bereitete, die Teambesprechung am Abend, wenn AD, Benton-Smith und sie selbst über die Beweislage sprachen, Indizien durchgingen, sie verwarfen oder zusammenfügten wie Teile eines Puzzles. Aber sie wusste auch, woher dieser Anflug von Scham rührte. Obwohl sie nie darüber gesprochen hatten, vermutete sie, dass AD das Gleiche empfand. Denn die Teile des Puzzles waren die zerbrochenen Leben von Männern und Frauen.
Als sie drei Minuten später mit der Reisetasche in der Hand wartend vor dem Haus stand, sah sie den Wagen in die Einfahrt biegen. Ihr Arbeitstag hatte begonnen.

3
Sergeant Francis Benton-Smith wohnte allein im sechzehnten Stock eines Apartmenthauses aus der Nachkriegszeit nordwestlich von ShepherdÕs Bush. Unter ihm waren fünfzehn Stockwerke mit identischen Wohnungen und identischen Balkonen. Die Balkone, die sich über die gesamte Länge jeder Etage erstreckten, waren leicht einzusehen, doch nur selten wurde er von seinen Nachbarn gestört. Der eine nutzte sein Apartment als Zweitwohnung und war kaum da, und der andere, der einer geheimnisvollen Tätigkeit in der Londoner City nachging, verließ das Haus früher als Benton und kehrte mit konspirativer Geräuschlosigkeit erst in den frühen Morgenstunden zurück. Das Gebäude, das früher Sozialwohnungen beherbergt hatte, war von der Gemeinde veräußert und von privaten Baufirmen saniert worden, bevor die Wohnungen zum Verkauf angeboten worden waren. Trotz einer neu gestalteten Eingangshalle, den modernen Liften, die nicht die geringste Spur von Vandalismus aufwiesen, und dem frischen Anstrich, stellte das Gebäude weiterhin nicht mehr dar als einen unglücklichen Kompromiss zwischen vorsichtiger Sparsamkeit, Bürgerstolz und institutioneller Einheitsnorm, zumindest war es architektonisch harmlos. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.07.2006