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Vor dem Schlafzimmer erstreckte sich ihr das Panorama des Canary Wharf, dessen Spitze an einen gigantischen Bleistift erinnerte; das ruhige Wasser des West India Dock, die Docklands Light Railway mit Zügen wie Spielzeugeisenbahnen. Sie hatte Gegensätze schon immer anregend gefunden, und hier konnte sie vom Alten zum Neuen wandern, das Leben des Flusses in seiner ganzen Vielfalt vom ersten Morgenlicht bis in die Abenddämmerung hinein beobachten. Bei Einbruch der Nacht stand sie oft an das Balkongeländer gelehnt und sah zu, wie die Stadt sich in ein schimmerndes Gemälde aus Lichtern verwandelte, die Sterne verdunkelte und den Himmel mit ihrem rötlichen Schein überzog.

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ie Wohnung, lange geplant, umsichtig finanziert, war ihr Zuhause, ihr Refugium, ihr sicherer Hafen, ein in Backstein und Mörtel gefasster alter Traum. Kein Kollege war je in diese Wohnung eingeladen worden, und ihr erster und einziger Liebhaber Alan Scully hatte sich vor langer Zeit nach Amerika verabschiedet. Er hatte gewollt, dass sie mitkam, aber sie hatte sich geweigert, teils aus Bindungsangst, hauptsächlich jedoch weil ihre Arbeit ihr wichtiger war. Heute nun war sie erstmals seit der letzten mit ihm verbrachten Nacht nicht allein.

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ie räkelte sich in dem Doppelbett. Der Morgenhimmel hinter den durchsichtigen Vorhängen war ein klares, blasses Blau über einem schmalen Streifen grauer Wolken. Die Wettervorhersage hatte einen weiteren spätherbstlichen Tag mit Sonne und Schauern versprochen. Aus der Küche drangen leise, angenehme Geräusche an ihr Ohr, siedendes Wasser im Kessel, das Schließen einer Schranktür, das Klappern von Geschirr: Detective Inspector Piers Tarrant machte Kaffee. Sie war den ersten Moment allein, seit sie ihre Wohnung gemeinsam betreten hatten, und sie ließ die vergangenen vierundzwanzig Stunden nicht mit Bedauern Revue passieren, sondern mit dem Erstaunen darüber, dass es passiert war.

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iersÕ Anruf hatte sie Montag früh im Büro erreicht. Die Essenseinladung für Freitagabend war überraschend gekommen. Sie hatten sich nicht mehr gesprochen, seit Piers vom Dezernat in die Antiterroreinheit gewechselt war. Jahrelang hatten sie in Dalglieshs Sonderdezernat zusammengearbeitet, sie hatten einander respektiert, sich gegenseitig angespornt und Commander Dalgliesh hatte sich ihre halb eingestandene Rivalität, wie sie wusste, geschickt zunutze gemacht. Sie hatten gelegentlich gestritten, leidenschaftlich, aber nie boshaft. Er war für sie einer der attraktivsten Männer, mit denen sie je gearbeitet hatte. Doch selbst wenn er ihr damals signalisiert hätte, dass er sexuell an ihr interessiert war, sie wäre nicht darauf eingegangen. Eine Affäre mit einem direkten Kollegen hätte nicht nur die eigene Kompetenz in Frage gestellt, nein, einer von ihnen hätte das Dezernat verlassen müssen. Dank ihres Jobs hatte sie es geschafft, den Ellison Fairweather Buildings ihrer Kindheit zu entfliehen. Sie wollte nicht alles, was sie erreicht hatte, aufs Spiel setzen, indem sie diesen verlockenden, letztlich aber ungangbaren Weg einschlug.
Sie hatte ihr Handy eingesteckt, verblüfft darüber, wie bereitwillig sie die Einladung angenommen hatte, und nachgedacht, was dahinter stecken mochte. Wollte Piers vielleicht etwas fragen oder mit ihr besprechen? Unwahrscheinlich. Die meist verlässliche Gerüchteküche der Londoner Polizei munkelte seit längerem, dass er mit seinem neuen Job unzufrieden war, doch Männer erzählten Frauen gern von ihren Erfolgen, nicht von ihren Fehleinschätzungen. Und nachdem er sich erkundigt hatte, ob sie gern Fisch aß, hatte er vorgeschlagen, dass sie sich um halb acht im SheekeyÕs trafen. Die Wahl eines renommierten Restaurants, noch dazu nicht billig, hatte ihr eine subtile, wenn auch verwirrende Botschaft vermittelt. Wollte er an dem Abend etwas feiern, oder war Piers immer so großzügig, wenn er eine Frau einlud? Allerdings hatte er nie den Eindruck gemacht, knapp bei Kasse zu sein, und er stand in dem Ruf, keinen Mangel an Frauen zu haben.

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ls sie eintraf, erwartete er sie bereits. Sie ertappte ihn bei einem raschen, anerkennenden Blick, als er sich erhob, um sie zu begrüßen. Sie war froh gewesen, dass sie sich die Mühe gemacht hatte, ihr volles, helles Haar, das sie für die Arbeit glatt zu einem Zopf oder einem Nackenknoten zurückband, kunstvoll hochzustecken. Sie trug einen matt cremefarbenen Seidenrock und den einzigen teuren Schmuck, den sie besaß: antike Perlenohrringe aus Gold. Sie war fasziniert und leicht amüsiert, dass auch Piers sich in Schale geworfen hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn je in Anzug und Krawatte gesehen zu haben, und am liebsten hätte sie gesagt: »Da haben wir uns ja beide richtig fein herausgeputzt, was?«
Sie bekamen einen ruhigen Ecktisch zugewiesen, bestens geeignet für Vertraulichkeiten, aber die hatten sich kaum ergeben. Das Essen war angenehm verlaufen, gemächlich und entspannt, ohne jede Verlegenheit. Er hatte nur wenig über seinen neuen Job geredet, aber das hatte sie nicht anders erwartet. Sie hatten kurz über Bücher gesprochen, die sie kürzlich gelesen hatten, über Kinofilme, für die sie Zeit gefunden hatten, das übliche Geplänkel eben, das Kate wie das behutsame Abtasten zweier Fremder bei ihrer ersten Verabredung erschien. Dann waren sie auf vertrauteres Terrain gewechselt, zu Fällen, an denen sie gemeinsam gearbeitet hatten, und dem neusten Polizeitratsch. Hin und wieder hatten sie sich kleine Details aus ihrem Privatleben anvertraut.
Nach dem Hauptgang, Seezunge, hatte er gefragt: »Wie macht sich denn der schöne Sergeant so?«

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nsgeheim war Kate amüsiert. Piers hatte seine Abneigung gegen Francis Benton-Smith nie gut verbergen können. Kate vermutete, dass das weniger an Bentons ausgesprochen gutem Aussehen lag, als vielmehr an ihrer beider Einstellung zum Beruf: kontrollierter Ehrgeiz, Intelligenz, ein sorgfältig geplanter Weg nach oben, der auf der festen Überzeugung basierte, dass sie für die Polizeiarbeit gewisse Stärken mitbrachten, die ihnen mit ein bisschen Glück eine rasche Beförderung eintragen würden.
»Er ist ganz in Ordnung. Ein bisschen übereifrig, aber das waren wir ja wohl alle, als AD uns zu sich geholt hat. Er macht sich gut.«
»Es wird gemunkelt, dass AD ihn für meinen Posten ins Auge gefasst hat.«
»Deinen alten Posten? Durchaus möglich. Schließlich hat er ihn noch nicht wieder besetzt. Vielleicht überlegen die hohen Herren ja auch, was sie überhaupt mit dem Dezernat anstellen wollen. Sie könnten den Laden dichtmachen, wer weiß? Die bedrängen AD andauernd, dass er andere, wichtigere Sachen übernimmt - dieses landesweite Kripo-Dezernat, das geplant ist, hast du bestimmt von gehört. Ständig hetzt er von einem Top-Meeting zum nächsten.«

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ls sie beim Nachtisch angelangt waren, verlief ihre Unterhaltung sprunghaft. Plötzlich sagte Piers: »Wenn ich Fisch gegessen habe, trinke ich nicht gern direkt hinterher Kaffee.«
»Oder gleich nach diesem Wein, aber ich könnte was zum Nüchternwerden gebrauchen.« Das war unaufrichtig gewesen, dachte sie. Sie trank nie so viel, dass sie Gefahr lief, die Kontrolle zu verlieren.
»Wir könnten zu mir fahren. Ist nicht weit.«
Da hatte sie gesagt: »Oder zu mir. Von meiner Wohnung haben wir Aussicht auf den Fluss.«
Die Einladung war ihr genauso unverkrampft über die Lippen gekommen, wie er sie angenommen hatte: »Dann zu dir. Ich muss nur unterwegs noch auf einen Sprung zu mir.«
Er war nur für zwei Minuten verschwunden, und sie hatte auf eigenen Vorschlag hin im Auto gewartet. Als sie zwanzig Minuten später ihre Wohnungstür aufschloss und in seiner Gesellschaft das geräumige Wohnzimmer mit den großen Fenstern zur Themse betrat, hatte sie es mit neuen Augen gesehen: konventionell, moderne Möbel, keine Erinnerungsstücke, kein Hinweis darauf, dass die Bewohnerin ein Privatleben, Eltern, eine Familie hatte, keine Gegenstände, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. So aufgeräumt und unpersönlich wie eine für den raschen Verkauf eingerichtete Musterwohnung.

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hne sich umzuschauen, war er direkt zu den Fenstern gegangen, dann durch die Balkontür nach draußen. »Ich kann verstehen, warum du die genommen hast, Kate.«
Sie hatte ihn nicht begleitet, sondern war stehen geblieben und hatte seinen Rücken betrachtet, an ihm vorbeigeblickt auf das dunkle, wogende Wasser, aufgewühlt und silbrig durchschnitten, auf die Türme und Hochhäuser, die großen Gebäudeblocks am gegenüberliegenden Ufer, gestaltet mit Rechtecken aus Licht. Er war zu ihr in die Küche gekommen, wo sie den Kaffee mahlte, die beiden Becher hinstellte, Milch aus dem Kühlschrank erwärmte. Als sie schließlich zusammen auf dem Sofa saßen und der Kaffee getrunken war, hatte er sich vorgebeugt und sie sanft, aber bestimmt auf den Mund geküsst, und sie hatte gewusst, was passieren würde. Hatte sie das nicht vom ersten Moment im Restaurant an?
»Ich würde gern duschen.«
Sie lachte. »Du machst keine Umwege, Piers! Das Bad ist da durch die Tür.«
»Komm doch mit, Kate.«
»Zu eng. Geh du zuerst.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.07.2006