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Aber Harkness sprach schon weiter. »Sie können Dr. Glenister auf dem Luftwaffenstützpunkt St. Mawgan abholen, in der Nähe von Newquay. Dort wird man ihr auch einen Hubschrauber zur Verfügung stellen, um den Toten in das Leichenschauhaus zu bringen, wo sie ihn untersuchen wird. Ihren Bericht müssten Sie dann irgendwann morgen erhalten.«
Dalgliesh sagte: »Dieser Maycroft hat Sie also sofort angerufen, nachdem er die Leiche gefunden hatte? Ich vermute, das entspricht dem üblichen Procedere.«
Harkness sagte: »Man hatte ihm eine Telefonnummer gegeben mit dem Hinweis, dass sie streng geheim sei, und ihm gesagt, er solle den Stiftungsrat verständigen, falls etwas Ungewöhnliches auf der Insel vorfalle. Er ist darüber unterrichtet, dass Sie am frühen Nachmittag mit dem Hubschrauber eintreffen.«
Dalgliesh sagte: »Es wird nicht leicht für ihn, seinen Mitarbeitern plausibel zu machen, wieso dieser Todesfall von einem Commander und einem Detective Inspector der Londoner Metropolitan Police untersucht wird und nicht von der Kripo vor Ort, aber ich vermute, das haben Sie berücksichtigt.«

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arkness nickte. »So gut wir können. Der dortige Chief Constable ist selbstverständlich eingeweiht. Jedes Kompetenzgerangel erübrigt sich, solange wir nicht wissen, ob wir es überhaupt mit Mord zu tun haben. Bis dahin werden sie sich kooperativ zeigen. Falls es Mord war und die Insel wirklich so sicher ist, wie sie behaupten, ist die Zahl der Verdächtigen begrenzt. Das müsste die Ermittlungen eigentlich beschleunigen.«
So falsch liegen konnte nur jemand, der keine Ahnung von der Ermittlungsarbeit in einem Mordfall hatte oder der weniger erfolgreiche Vorkommnisse der eigenen Vergangenheit geflissentlich verdrängt hatte. Wenn in einer kleinen Gruppe von Verdächtigen jeder Einzelne intelligent und vorsichtig genug war, seine Meinung für sich zu behalten und dem verhängnisvollen Drang zu widerstehen, mehr Informationen preiszugeben als unbedingt erforderlich, konnte das jede Ermittlung erschweren und sogar die Strafverfolgung vereiteln.
Conistone war schon fast an der Tür, als er sich noch einmal umwandte. »Das Essen auf Combe Island ist in Ordnung? Die Betten bequem?«
Harkness entgegnete kühl: »Wir hatten noch keine Zeit, uns danach zu erkundigen. Offen gestanden, habe ich gar nicht daran gedacht. Ob die Köchin was von ihrem Handwerk versteht und wie es um die Matratzen bestellt ist, müssten doch eigentlich Sie klären. Wir sind für die Leiche zuständig.«

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onistone nahm die Stichelei mit Humor. »Stimmt. Wir werden die Qualität des Service überprüfen, falls diese Konferenz zustande kommt. Das Erste, was die Reichen und Mächtigen goutieren lernen, sind die Vorzüge des Komforts. Ich hätte noch erwähnen sollen, dass die letzte noch lebende Holcombe auf der Insel wohnt. Miss Emily Holcombe ist über achtzig und eine ehemalige Oxford-Dozentin. Geschichte, glaube ich. Ihr Fach, Adam, hab ich Recht -, allerdings waren Sie doch an der anderen Uni, nicht? Entweder Sie wird Ihre Verbündete oder ein echter Störfaktor. Wenn ich auch nur ein bisschen was von intellektuellen Frauen verstehe, tippe ich auf Letzteres. Danke, dass Sie das übernehmen. Wir bleiben in Kontakt.«

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arkness stand auf, um Conistone und Reeves aus dem Gebäude zu geleiten. Dalgliesh trennte sich vor den Aufzügen von ihnen und begab sich in sein Büro. Zuerst musste er Kate und Benton-Smith anrufen. Das Telefonat danach würde schwieriger werden. Emma Lavenham und er hatten den Abend und den morgigen Tag miteinander verbringen wollen. Vielleicht war sie schon auf dem Weg, falls sie beschlossen hatte, bereits am Nachmittag nach London zu kommen. Er würde versuchen sie auf ihrem Handy zu erreichen. Es würde nicht der erste Anruf dieser Art werden, sie rechnete bestimmt schon halb damit. Sie würde sich nicht beschweren - das tat Emma nie. Sie beide hatten häufiger solche dringenden Verpflichtungen. Umso kostbarer war ihnen die gemeinsame Zeit, konnte sie doch nie verlässlich geplant werden. Und da waren diese drei Worte, die er ihr sagen wollte, am Telefon aber nie über die Lippen brachte. Auch die würden warten müssen.

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algliesh steckte den Kopf ins Zimmer seiner Sekretärin. »Susie, verbinden Sie mich bitte mit DI Miskin und Sergeant Benton-Smith. Danach brauche ich einen Wagen zum Battersea Heliport. Ich hole auf dem Weg dorthin erst Sergeant Benton-Smith und dann Inspector Miskin ab. Inspector Miskins Spurensicherungskoffer ist in ihrem Büro. Sorgen Sie dafür, dass er ins Auto gebracht wird, danke.«
Dieser Fall hätte kaum ungelegener kommen können. Nach einem Monat, in dem er sechzehn Stunden täglich gearbeitet hatte, fühlte er sich erschöpft, und obwohl er mit diesem Gefühl umgehen konnte, sehnte er sich nach Ruhe, Frieden und zwei seligen Tagen in Emmas Gegenwart. Es war kein Trost, dass er sich selbst die Schuld für das verpatzte Wochenende geben musste. Er war nicht verpflichtet, eine Mordermittlung zu übernehmen, ganz gleich wie politisch brisant oder gesellschaftlich bedeutend das Opfer oder wie interessant das Verbrechen auch war. Es gab leitende Beamte, die es lieber gesehen hätten, wenn er sich auf die Projekte konzentriert hätte, in die er bereits eingebunden war: die komplexen polizeilichen Aufgaben in einer multikulturellen Gesellschaft mit ihren großen Herausforderungen, Terrorismus und internationale Verbrecherorganisationen; der Aufbau eines neuen Dezernats, das sich ausschließlich um die landesweiten Ermittlungen zur Aufklärung von Kapitalverbrechen kümmern sollte. Pläne, die von der Politik behindert wurden, keine Seltenheit bei Polizeiarbeit auf höchster Ebene. Die Metropolitan Police brauchte leitende Beamte, die sich in dieser Welt voller Fallen und Fußangeln zu bewegen wussten. Doch er sah für sich die Gefahr, ein weiterer Bürokrat zu werden, ein Ausschussmitglied, Berater, Koordinator - und kein Detective mehr. Falls das geschah, würde er dann noch Dichter sein? Wurzelte seine Lyrik nicht gerade in dem fruchtbaren Boden einer Mordermittlung, in der Faszination angesichts der langsamen Enthüllung der Wahrheit, in der gemeinsamen Anstrengung, der Aussicht auf Gefahr und in dem Mitgefühl für hoffnungslose und gebrochene menschliche Schicksale?

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etzt, wo Kate und Benton-Smith bereits verständigt waren, musste einiges dringend erledigt werden, mussten Besprechungen höflich abgesagt, Unterlagen weggeschlossen, die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit unterrichtet werden. Für unerwartete Einsätze stand immer eine Reisetasche fertig gepackt in seiner Wohnung in Queenhithe, und er war froh, dass er noch dort vorbei musste. Er hatte Emma noch nie von New Scotland Yard aus angerufen. Beim Klang seiner Stimme würde sie wissen, was er ihr zu sagen hatte. Sie würde das Wochenende anders verplanen und ihn vielleicht aus ihren Gedanken ebenso ausschließen, wie er aus ihrer Gegenwart ausgeschlossen war.
Als er zehn Minuten später seine Bürotür zudrückte, warf er zum ersten Mal einen Blick zurück, als verabschiedete er sich von einem vertrauten Ort, den er vielleicht nie wieder sehen würde.

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etective Inspector Kate Miskin lag noch im Bett in ihrer Wohnung über der Themse. Normalerweise wäre sie um diese Zeit längst im Büro, und selbst an einem freien Tag bereits geduscht, angezogen und hätte gefrühstückt. Kate war Frühaufsteherin, aus Überzeugung, aber auch aus einem Zwang heraus, der sie seit ihrer Kindheit belastete, als sie sich Tag für Tag, kaum dass sie wach war, aus Panik vor einer imaginären Katastrophe die Kleider überstreifte, um bereit zu sein, wenn das erwartete Desaster hereinbrach: ein Feuer in einer der unteren Wohnungen schnitt jeden Fluchtweg ab, ein Flugzeug krachte durch das Fenster, ein Erdbeben brachte das Hochhaus zum Einsturz und ließ das Balkongitter unter ihren Händen zuerst erzittern, dann bersten. Sie war stets erleichtert gewesen, das schwache Nörgeln ihrer Großmutter zu hören, die ihre erste Tasse Tee haben wollte. Ihre Großmutter hatte allen Grund gehabt, nörgelig zu sein. Da waren der Tod der ungewollten Tochter, das Eingepferchtsein in einem Hochhaus, in dem sie sich nicht ausgesucht hatte zu leben, belastet mit einer unehelichen Enkelin, um die sie sich nicht kümmern wollte und für die sie kaum Liebe aufbrachte. Aber ihre Großmutter war gestorben, und wenn auch die Vergangenheit nicht ruhte und es nie würde, hatte sie doch im Laufe der Jahre mühsam gelernt, das Beste und das Schlimmste zu erkennen und zu akzeptieren, was diese Vergangenheit ihr gegeben hatte.

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un eröffnete sich ihr der Blick auf ein ganz anderes London. Ihre Wohnung am Fluss lag am Gebäudeende und bot daher eine doppelte Aussicht und zwei Balkone. Vom Wohnzimmer aus blickte sie nach Südwesten über die Betriebsamkeit auf dem Fluss - Lastkähne, Ausflugsdampfer, die Barkassen der Flusspolizei und der Londoner Hafenbehörde, die Vergnügungsboote, die stromaufwärts fuhren, um bei der Tower Bridge anzulegen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.07.2006