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Danach geriet Combe mehr oder weniger in Vergessenheit, bis die Familie im achtzehnten Jahrhundert anfing, sich wieder für sie zu interessieren, und sie gelegentlich aufsuchte, um Vögel zu beobachten oder zu picknicken. Dann beschloss ein gewisser Gerald Holcombe, der Ende des achtzehnten Jahrhunderts geboren wurde, die Insel zum Feriensitz der Familie zu machen. Er ließ die Cottages erneuern und baute 1912 ein Haus und zusätzliche Unterkünfte für das Personal. In dieser berauschenden Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg verbrachte die Familie jeden Sommer dort. Doch der Krieg änderte alles. Die beiden ältesten Söhne fielen, der eine in Frankreich, der andere auf Gallipoli. Die Holcombes gehören zu der Art von Familien, die in Kriegen sterben und nicht von ihnen profitieren. Damit blieb nur noch Henry übrig, der jüngste Sohn, der die Schwindsucht hatte und deshalb kriegsuntauglich war. Offenbar fühlte er, dass ihm nach dem Tod seiner Brüder alles unverdient zufiel und war nicht sonderlich auf sein Erbe erpicht. Das Geld stammte nicht aus Grundbesitz, sondern aus Profit bringenden Investitionen, und diese Quellen waren gegen Ende der Zwanzigerjahre mehr oder weniger versiegt. Daher beschloss er 1930, mit dem, was noch übrig war, eine Stiftung zu gründen. Er suchte sich ein paar reiche Gleichgesinnte und trat Insel und Immobilien ab. Ihm schwebte vor, dass Combe für Männer in leitender Position, die eine Pause von ihrem strapaziösen Beruf brauchten, ein Ort der Ruhe und Abgeschiedenheit werden sollte.«

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n dieser Stelle bückte er sich zum ersten Mal nach seiner Aktentasche und holte einen mit einem Sicherheitsvermerk versehenen Hefter hervor. Nachdem er die Dokumente kurz durchstöbert hatte, zog er ein einzelnes Blatt Papier heraus. »Ich habe hier den exakten Wortlaut, was Henry Holcombe beabsichtigte. Für Männer, die sich der risikoreichen und anstrengenden Aufgabe verschrieben haben, der Krone und ihrem Land an verantwortlicher Stelle zu dienen, ob bei den Streitkräften, in der Politik, Wissenschaft, Wirtschaft oder Kunst, und die einer Erholungsphase in Einsamkeit, Stille und Frieden bedürfen. Typisch für die Zeit diese Selbstlosigkeit, oder? Von Frauen natürlich keine Rede. Immerhin schreiben wir das Jahr 1930. Nun ja, inzwischen hat man sich darauf geeinigt, dass ÝMännerÜ in diesem Fall Frauen nicht ausschließt. Es werden jeweils höchstens fünf Besucher aufgenommen, die nach Wunsch entweder im Haupthaus oder in einem der steinernen Cottages untergebracht werden. Im Grunde bietet Combe Island vor allem Ruhe und Sicherheit. Und in den letzten zwanzig, dreißig Jahren ist Letzteres wohl das wichtigere von beiden geworden. Wer Zeit zum Nachdenken braucht, kann ohne Personenschutz dorthin fahren, weil er weiß, dass er dort in Sicherheit und völlig ungestört sein wird. Es gibt einen Hubschrauberlandeplatz, um ihn auf die Insel zu bringen, und der kleine Hafen ist die einzige mögliche Anlegestelle. Gäste dürfen keinen Besuch empfangen, und sogar Handys sind verboten - die hätten dort sowieso keinen Empfang. Man ist um größtmögliche Diskretion bemüht. Auf die Insel kommen die meisten aufgrund einer persönlichen Empfehlung, entweder eines Mitglieds des Stiftungsrates oder eines früheren Stammgasts. Sie sehen also, die Insel ist für die Zwecke des Premierministers vorzüglich geeignet.«
Reeves konnte sich nicht länger beherrschen. »Was spricht denn gegen Chequers?«

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ie anderen bedachten ihn mit dem durchaus interessierten Blick, den Erwachsene wohlwollend einem frühreifen Kind zuwerfen.
Conistone antwortete ihm: »Nichts. Ein schönes Haus, und wie ich höre, überaus komfortabel. Aber Gäste, die auf den Landsitz des Premiers eingeladen werden, erregen meistens eine gewisse Aufmerksamkeit. Vielleicht fahren sie ja gerade deshalb hin.«
Dalgliesh fragte: »Wie hat Downing Street von der Insel erfahren?«
Conistone schob das Blatt Papier zurück in die Akte. »Durch einen der kürzlich geadelten Freunde des Premiers. Der ist nach Combe gefahren, um sich von der risikoreichen und anstrengenden Aufgabe zu erholen, seinem Imperium eine weitere Supermarktkette einzuverleiben und seinem Privatvermögen eine weitere Milliarde.«
»Vermutlich gibt es dort fest angestelltes Personal. Oder müssen die VIPs selber spülen?«
»Es gibt einen Verwalter, Rupert Maycroft, ehemals Anwalt in Warnborough. Wir mussten uns ihm anvertrauen und natürlich auch die Mitglieder des Stiftungsrats davon in Kenntnis setzen, dass Downing Street dankbar wäre, Anfang Januar dort wichtige Gäste empfangen zu dürfen. Im Augenblick ist das alles noch sehr vage, aber wir haben diesen Maycroft gebeten, nach Ablauf dieses Monats keine Reservierungen anzunehmen. Dazu das übliche Personal - einen Bootsführer, eine Hauswirtschafterin, eine Köchin. Wir haben über alle eine Akte angelegt. Der eine oder andere Gast war so wichtig, dass man das Personal überprüft hat. Alles äußerst unauffällig. Außerdem lebt ein Arzt auf der Insel, Dr. Guy Staveley, zusammen mit seiner Frau, die sich allerdings mehr auf dem Festland als auf der Insel aufhalten soll. Erträgt anscheinend die Langeweile nicht. Staveley war Allgemeinmediziner in London. Er hat seine Praxis aufgegeben und ist nach Combe geflüchtet. Ein Kind ist wohl aufgrund seiner Fehldiagnose gestorben, da hat er sich einen Job gesucht, wo schlimmstenfalls mal einer von der Klippe stürzt und er als Arzt nicht verantwortlich gemacht werden kann.«

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arkness sagte: »Nur ein einziger Bewohner der Insel, der Bootsführer Jago Tamlyn, ist vorbestraft, 1998 wegen schwerer Körperverletzung. Er hat mildernde Umstände gekriegt, aber es muss ein brutaler Angriff gewesen sein. Zwölf Monate hat er abgesessen. Seitdem hat er sich nichts mehr zuschulden kommen lassen.«
Dalgliesh fragte: »Wann sind die derzeitigen Gäste angekommen?«
»Alle fünf im Lauf der vergangenen Woche. Der Schriftsteller Nathan Oliver ist mit Tochter Miranda und seinem Lektor Dennis Tremlett am Montag eingetroffen. Dr. Raimund Speidel, ein deutscher Diplomat im Ruhestand, ehemals Botschafter in Peking, ist am Mittwoch mit einer Privatjacht aus Frankreich gekommen, und am Donnerstag Dr. Mark Yelland, Direktor des Forschungslabors Hayes-Skolling in den Midlands, das ins Visier radikaler Tierschützer geraten ist. Maycroft wird Ihnen Genaueres sagen können.«
Harkness schaltete sich ein. »Am besten Sie nehmen möglichst wenige Leute mit, zumindest bis Sie wissen, was Sache ist. Je unauffälliger die Invasion, desto besser.«

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algliesh sagte: »Es wird wohl kaum eine Invasion werden. Ich warte noch immer auf einen Nachfolger für Tarrant, doch Inspector Miskin und Sergeant Benton-Smith werden mich begleiten. Wahrscheinlich kommen wir vorerst auch ohne einen Mitarbeiter vom Erkennungsdienst aus, aber wenn sich herausstellt, dass es Mord war, werde ich Verstärkung anfordern oder die Sache der örtlichen Polizei übergeben müssen. Einen Pathologen brauche ich auf jeden Fall. Ich rede mal mit Kynaston, falls ich ihn erreiche. Könnte sein, dass er nicht im Labor, sondern irgendwo im Einsatz ist.«
Harkness sagte: »Das wird nicht nötig sein. Wir haben uns bereits für Edith Glenister entschieden. Die kennen Sie bestimmt.«
»Hat sie sich nicht pensionieren lassen?«
Conistone sagte: »Vor zwei Jahren, aber sie übernimmt noch immer gelegentlich heikle oder internationale Fälle. Wahrscheinlich hatte sie mit fünfundsechzig keine Lust mehr, mit irgendwelchen Kripobeamten in Gummistiefeln über matschige Felder zu stapfen und halb verweste Leichen in Straßengräben zu untersuchen.«
Dalgliesh bezweifelte, dass Dr. Glenister aus diesem Grund in Pension gegangen war. Er hatte zwar noch nie direkten Kontakt zu ihr gehabt, doch er kannte ihren Ruf. Sie zählte zu den renommiertesten forensischen Pathologinnen, und zwar vor allem aus drei Gründen: Sie konnte präzise den Todeszeitpunkt bestimmen, sie arbeitete schnell und ihre Berichte waren gründlich, und ihre Aussagen als Sachverständige vor Gericht waren klar und fundiert. Außerdem war sie dafür bekannt, dass sie die Aufgaben der Pathologie und der Ermittlungsbeamten betont säuberlich voneinander getrennt hielt. Dr. Glenister, das wusste er, ließ sich niemals irgendwelche Einzelheiten der Mordumstände schildern, ehe sie nicht die Leiche untersucht hatte, vermutlich um sich bei ihrer Arbeit nicht durch eine vorgefasste Meinung beeinflussen zu lassen. Die Aussicht, mit ihr zusammenzuarbeiten, faszinierte ihn, und er vermutete stark, dass der Vorschlag, sie hinzuzuziehen, vom Außenministerium kam. Dennoch, der gewohnte forensische Pathologe wäre ihm lieber gewesen. Er sagte: »Sie wollen doch wohl nicht andeuten, dass auf Miles Kynastons Verschwiegenheit kein Verlass ist?«
Harkness schaltete sich ein. »Selbstverständlich nicht, aber Cornwall fällt wohl kaum in seinen Zuständigkeitsbereich. Dr. Glenister hält sich zurzeit im Südwesten auf. Außerdem steht Kynaston gar nicht zur Verfügung, wir haben nachgefragt.«
Am liebsten hätte Dalgliesh gesagt: Da wird sich das Außenministerium aber freuen. Die hatten wirklich keine Zeit verloren. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 18.07.2006