08.07.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Als Menschen auswanderten...

Hafenkaje in Cuxhaven ist ungewöhnlicher Ort einer Theateraufführung

Von Wolfgang Heumer
Cuxhaven (dpa). Koffer können Geschichten erzählen - über Angst und Not, Flucht und Vertreibung, Reisen und Ankünfte. Sie können auch verschiedene Funktionen übernehmen: Geschenk, Versteck, Last und sogar Kindermund sein. Beides hat ein Dutzend alter Koffer in der jüngsten Inszenierung des internationalen Theaterensembles »Das letzte Kleinod« getan.

Als ebenso beeindruckendes wie teilweise bedrückendes Dokumentarstück über Flüchtlingsschicksale feierte »Samaria - going to the land of milk and honey« in der Nacht zu Freitag auf einer Hafenkaje in Cuxhaven Premiere.
Regisseur und Autor Jens-Erwin Siemssen hat für das Stück im kanadischen Halifax acht Männer und Frauen aufgespürt, die vor 60 Jahren als heimatlose Flüchtlinge über Cuxhaven mit dem Dampfer »Samaria« nach Nordamerika auswanderten. Ein jüdischer Waisenjunge, eine von Deutschland enttäuschte Frau, ein Überlebender des Holocaust, ein politischer Flüchtling, ein deutscher Kriegsgefangener und weitere Opfer des Nationalsozialismus' aus Österreich, Polen und Ungarn schilderten Siemssen ihren Schicksalsweg.
Siemssen hat in seiner Vorliebe für ungewöhnliche Spielorte (unter anderem inszenierte er ein Stück über den deutschen Polarforscher Alfred Wegener in einem Kühlhaus) dieses Mal die Hafenkaje des Cuxhavener Steubenhöfts als Bühne genutzt. Dort gingen die Flüchtlinge im Frühjahr 1946 an Bord; noch aus dieser Zeit stammende Treppen, Gepäckkarren, Gangways und ein Hafenkran sind neben dem Dutzend alter Koffer die einzigen Requisiten des Stücks.
Während »Samaria« in den ersten kurzen Szenen noch in der längst abgenutzten Betroffenheitslyrik über Schicksale im Nationalsozialismus daher kommt, entwickelt das Stück im weiteren Verlauf eine faszinierende Dramatik. Dem internationalen Ensemble aus Kanada, Ungarn, den Niederlanden und Deutschland gelingt es eindrucksvoll, die Grenzen zwischen Spiel und Realität zerfließen zu lassen.
Die Originalstimmen der Protagonisten kennen sie nur aus den Tonbandprotokollen. Sie geben sie nicht nur perfekt wieder, sondern verleihen ihnen auch Körper, Geist und Seele. Gefühle wie Angst, Hoffnung, Mut und Verzweiflung bleiben nicht erzählte Erinnerung, sondern werden gelebte Gegenwart, deren Teil die Zuschauer sind.
Bis zum 15. Juli ist das Stück jeweils abends ab 22 Uhr in Cuxhaven zu sehen. Vom 23. bis 28. Juli gastiert »Das letzte Kleinod« dann mit »Samaria« in Halifax. Dort werden sie das Stück ebenfalls im Hafen in der ersten Vorstellung vor jenen acht ehemaligen Flüchtlingen aufführen.

Artikel vom 08.07.2006