06.07.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

aber viel gewonnen

Bild ab und beweist gerade in der Niederlage Größe


nicht einmal die Fachleute einig. »Es handelt sich um eine Parallelerscheinung zum rheinischen Karneval«, behauptet der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler. Stimmt nicht, hält sein Stuttgarter Kollege Wolfram Pyta dagegen - was wir erleben, sei »neuentdeckter, ungekünstelter Patriotismus«.
Bleibt uns der erhalten? Nein, das ist ein »flüchtiges Phänomen, das nach der WM abflaut«, versichert Wehler. »Sportereignisse sind ein Sicherheitsventil - da bricht die Begeisterung durch, aber dann ist es wieder vorbei.« Schon wieder falsch, widerspricht Pyta. Gerade junge Menschen behielten das Bekenntnis zur Nation bei. »Sie werden nicht mehr so selbstquälerisch sein wie ihre Eltern.« Schön wär's ja . . .
Wirklich unangenehm hätten unsere notorischen Beutelschneider in den Parlamenten werden können, die sich stets im Glanz fremder Erfolge sonnen. Gottlob jedoch gehen ihre Anbiederungsversuche im Lärm und im Farbenmeer der Partys unter. Ein bisschen bramarbasierender Stoiber hier, ein bisschen hilflose Merkel dort, und Schröders SPD-Riege macht sich ohnehin rar, weil sie wegen ihrer Abwahl so kurz vor der WM immer noch schmollt.
Das ist auch ein Erfolg des feiernden kleinen Mannes in Schwarz-Rot-Gold. In die trübe Steuer- und Arbeitsmarktwirklichkeit schleift man ihn noch früh genug zurück.
Die Protagonisten zweier ganz anderer Branchen blicken höchst interessiert auf das Großereignis des Sports: die Unterhaltungsasse und die Kulturschaffenden. Thomas Gottschalk hat gesagt, die Wirkung der WM gehe über das rein Sportliche hinaus. Es könnte also sein, dass der »Wetten, dass . . .?«-Moderator erkannt hat, dass sich Deutschlands Entertainer ein wenig strecken müssen, wenn sie Erfolg haben wollen. Welche Folgen die bundesweit zelebrierte gute Laune im Verbund mit den Leistungen unserer Kicker für unser unterirdisch schlechtes Fernsehprogramm haben könnten, wollen wir uns an dieser Stelle lieber gar nicht erst ausmalen. Wir träumen nur still vor uns hin.
Was Kunst und Kultur angeht, sieht das Bild nicht so einheitlich aus. Claus Peymann, der Intendant des Berliner Ensembles, hat den Bundestrainer zum »bedeutendsten deutschen Theaterregisseur« ausgerufen, weil die Fußballstadien die »neuen großen Bühnen« im Lande mit zum Teil grandiosen Darstellern die wahren Helden seien. Eine hochachtungsvolle Verbeugung, in der allerdings ein bisschen Neid mitschwingt. Aber Neid kann ja auch Ansporn sein.
Andererseits darf uns der Fußball jetzt nicht in die Arme der Event-Kultur treiben. Zwar »haben alle das Recht, ordentlich zu feiern, auch die Künstler«, meint der Präsident der Berliner Akademie der Künste, Klaus Staeck. Eine Aussage mit gemischten Gefühlen, denn »wir müssen aufpassen, dass wir nicht von Spektakel zu Spektakel eilen und die Kultur, die doch ins Zentrum einer Kulturnation gehört, dabei in den Schlepptau des Sports gerät.«
Sieg oder Eigentor - es kommt darauf an, wie geschickt man die Vorlage verwertet. Walter Jens jedenfalls, Fußballfreund, Literat und Philosoph in einer Person, hat sich von der positiven Stimmung im Lande anstecken lassen. Der 83-Jährige verbreitet Optimismus. Die WM verleihe »der gebeutelten Kulturszene« in diesem Land, in dem viele Künstler finanziell herumkrebsen, neuen Schwung. »Die Frage bleibt natürlich, wie weit das trägt. Irgendwann kommt auch wieder die Stunde der Wahrheit, aber dann kann die Kultur so manches auffangen.«
Wie man es dreht und wendet: Eine Weltmeisterschaft ist kein Allheilmittel, aber wenn sie uns Deutschen hilft, etwas gelöster in die Zukunft zu blicken, hat sie ihren Zweck mehr als erfüllt.

Artikel vom 06.07.2006