06.07.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Traurig ja, aber nicht enttäuscht

WM: Fußball-Fans wollen sich das neue Lebensgefühl nicht nehmen lassen

Von Hendrik Uffmann
und Christina Ritzau
Bielefeld (WB). Der Schock saß tief. Nach dem WM-Aus gegen Italien in der letzten Minute der Nachspielzeit konnten die Bielefelder gestern kaum fassen, dass der Freudentaumel jäh enden sollte. Doch trotz der Enttäuschung ließen sie die Köpfe nicht hängen. »Mehr erreicht, als zuvor gehofft«, ist fast überall die Stimmung.

»Enttäuscht bin ich nicht, aber richtig traurig.« Barbara Braum brachte gestern auf den Punkt, wie wohl die meisten Bielefelder die Niederlage empfinden. Einerseits großes Bedauern, dass die deutsche Mannschaft den Einzug ins Finale verpasst hat - andererseits Anerkennung für die Leistung des Teams. Und ein bisschen Trotz mischte sich unter die Stimmen. Die schwarz-rot-golden Fahne jetzt wieder vom Auto abzunehmen, das kam für kaum jemanden in Frage.
Vielleicht auch, weil sich die meisten wünschen, dass die Party weiter geht. Denn nicht nur den Fußball und die Nationalelf feierten die Fans, sondern auch sich selbst, wie Dr. Tilmann Sutter, Professor für Mediensoziologie an der Universität Bielefeld, erklärt. »Es macht den Menschen auch Spaß, Teil eines großen Events zu sein, an einem solchen Erlebnis teilzuhaben«, so der Wissenschaftler.
Vergleichbar sei dies durchaus mit der Papst-Euphorie im vergangenen Jahr, die zum Weltkirchentag ihren Höhepunkt fand. Und die Symbole der Fans - von der schwarz-rot-goldenen Perücke bis hin zum überall präsenten Trikot - sei eine Fortsetzung dessen, was es bislang im Vereins-Fußball gegeben habe und das nun auf die Nationalmannschaft übertragen werde.
Dass allerdings immer mehr Menschen plötzlich ein Symbol benutzen - zum Beispiel die Deutschland-Fahne am Auto - sei ein interessantes Phänomen. »Dabei spielt die Vorbild-Funktion eine wichtige Rolle«, sagt Tilmann Sutter. Je mehr Menschen eine Fahne am Auto haben oder die Nationalhymne mitsingen, desto leichter falle es, selbst mitzumachen.
Eine tiefgreifende und langfristige Veränderung des Nationalgefühls und des Gemeinschaftssinnes in Deutschland erwartet Sutter durch die WM nicht. Denn auch die Medien hätten einen erheblichen Einfluss auf die Stimmung der Menschen und könnten solche Trends setzen und anheizen. Dabei gerate leicht in den Hintergrund, dass die Fußballweltmeisterschaft nicht nur ein wichtiges nationales, sondern auch ein globales, weltsportliches Ereignis sei.
Die Bielefelder sahen das Thema gestern weniger wissenschaftlich: Die meisten hoffen, dass das neue Lebensgefühl, das die Deutschen in den vergangenen dreieinhalb Wochen für sich entdeckt haben, anhält.

Artikel vom 06.07.2006