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Krise als Antrieb:
Italiens Geheimnis

Marcello Lippi bekam nicht genug vom Halbfinale

Von Klaus Lükewille
Dortmund (WB). »Bella Italia«! Was war das für ein wunderschöner Abend in Dortmund. Marcello Lippi konnte nicht genug davon bekommen. Er zog sich in der Nacht die Videokassette der denkwürdigen Partie gegen Deutschland noch einmal rein und war anschließend genau so begeistert wie beim Schlusspfiff.

»Ich kann meiner Mannschaft nur ein Riesenkompliment machen. Alle italienischen Fans sollten heute glücklich sein.« Stimmt, Trainer. So war es. Und so ist es immer noch. Zwei späte Verlängerungstore gegen Deutschland, der Einzug ins Berliner Finale - er überdeckt vorerst den Fußballskandal in der Heimat, er vereinigt ein ganzes Land im Freudentaumel. Sogar Ministerpräsident Romano Prodi, sonst kein ausgewiesener Spaßbolzen, tanzte in der Kabine und sang mit den Spielern: »O sole mio!« Ja, über Italien leuchtete an diesem späten Abend die Sonne.
Überraschend offensiv auf dem Platz, überhaupt nicht defensiv vor den Mikrofonen, so präsentierten sich die Gewinner. Lippi sah mehr Qualität bei seiner Mannschaft in der Verlängerung. Dabei war er fest überzeugt: »Wir hätten uns auch im Elfmeterschießen durchgesetzt. Die Spieler zeigten Charakter. Ich bin extrem zufrieden. Dieser Halbfinaleinzug ist der Höhepunkt meiner Karriere.« Dann unterbrach der Trainer seinen Kommentar. Schwieg. Überlegte. Und legte nach: »Jetzt wollen wir vollenden, was wir angefangen haben.« Es kann ka am Sonntag in Berlin noch eine Stufe höher gehen.
Auf den Gipfel. Italien, der Weltmeister von 1934, 1938 und 1982, greift zum vierten Mal nach dem World Cup. Verteidiger Gianluca Zambrotta sagte mit glänzenden Augen: »Es ist ein unheimlich gutes Gefühl, im Finale zu stehen.« Das dürften seine Kollegen sofort so unterschrieben - wenn sie es nicht ohnehin schon selbst gesagt haben.
Denn »Italia 2006« erweist sich im Turnierverlauf immer mehr als eine echte Mannschaft, in der es überhaupt keine Konflikte zu geben scheint. Die Stars aus dem reichen Norden, die Spieler aus Turin und Mailand, sie harmonieren mit dem Römer Francesco Totti ebenso wie mit Fabio Grosso aus Palermo, der das Tor zum 1:0 seiner Familie widmete.
Was sie alle während der WM-Tage verbindet: Italiens Nationalelf will zeigen, dass in diesem Land und für dieses Land doch noch sauberer Fußball gespielt wird. Der erdrückende Skandal holt sie früh genug wieder ein. Aber hier in Deutschland möchten sie nicht daran denken - und schon gar nicht darüber reden. Nur einer wurde ganz deutlich.
Gennaro Gattuso empörte sich schon nach dem Viertelfinale gegen die Ukraine: »Wir sind Fußballprofis, keine Mafiosi.« In Dortmund legte Alessandro Del Piero nach: »Die Welt hat gesehen, welch tolle Spieler für Juventus Turin antreten.« Der italienische Meister, am tiefsten in die Betrügereien verwickelt, stellt ein halbes Dutzend Kicker für die WM-Auswahl ab.
Aber egal ob Juve, Milan, Roma oder Palermo, hier tragen sie alle das Trikot mit der Landesflagge. Mit immer mehr Stolz. Lippi, als langjähriger Turin-Coach ebenfalls unter Verdacht, hat es geschafft, seine Spieler auf ein großes Ziel einzuschwören: auf die WM. Er nutzte die Krise als Antrieb. Vielleicht wären sie ohne die alles erschlagenden Schlagzeilen nie so weit gekommen.
Jetzt fährt Lippi mit seiner Mannschaft nach Berlin. Und Gattuso jubelte: »Wir widmen diese Siege auch allen in Deutschland lebenden Italienern.« Die tosenden Tifosi zu Hause musste er gar nicht erwähnen. Die sind spätestens seit Dortmund sowieso außer Rand und Band. Wie ein ganzes Land. Bella Italia.

Artikel vom 06.07.2006