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Defensive in
der Offensive

Taktik-Trick: Verteidiger auf Torjagd

Von Klaus Lükewille
Dortmund (WB). Giachinto Facchetti, Giuseppe Bergomi und Franco Baresi: Italien hatte in der Abwehr schon immer Asse von Weltklasse. Auch bei der WM 2006 präsentieren sie jetzt wieder eine starke Deckungsreihe, die in sechs Spielen noch keinen gegnerischen Treffer zuließ.

10:1 lautet die Bilanz vor dem Finale. Und das einzige Ding, das sie bisher kassieren mussten, legten sie sich selbst in Netz: Cristian Zaccardo erzielte für die USA den Ausgleich zum 1:1 in Kaiserslautern. Ansonsten blockten die »Blauen« alles ab, was auf ihren Kasten kam.
Und wenn mal ein Ball tatsächlich durchflog, stand ja immer noch Gianluigi Buffon zwischen den Pfosten. Auch die deutschen Angreifer Lukas Podolski und Miroslav Klose mussten in Dortmund neidlos anerkennen: Clever, abgezockt und stets auf Ballhöhe, so trat Italiens undurchdringliche Abwehr ihnen 120 Minuten lang entgegen.
Marcello Lippi mag die Stürmer, er schätzt auch die Mittelfeldspieler - aber seine erklärten Lieblinge stehen ganz hinten. »Buffon, Cannavaro, Zambrotta, Gattuso«, schwärmt der Trainer, und er lässt dabei die Namen wie Musik erklingen. Hört sich gut an, sieht auch gut aus. Denn Kapitän Fabio Cannavaro im Abwehrzentrum bei der Abräumarbeit zuzusehen, ist schon ein Genuss. Es müssen nicht immer offensive Attacken sein, auch das Bremsen, Stoppen und Zerstören liefert erstklassige Fußballbilder. Cannavaro war hier in Dortmund der Hauptdarsteller. Immer einen Tick eher am Ball als seine Gegner.
Der Abwehrchef beherrscht das ganze Programm, die kleinen Tricks und die großen Täuschungsmanöver natürlich eingeschlossen. Als er Lukas Podolski einmal am Trikot festhielt, reklamierte er tatsächlich genau anders herum: Schiedsrichter, der Deutsche hat an meinem Hemd gezogen. Lippi über seinen Kapitän: »Cannavaro spielt seit Jahren auf höchstem Niveau. Er ist das Herz meiner Mannschaft.« Der Verteidiger gibt das Kompliment sofort zurück: »Ohne Lippi stünden wir nicht im Finale. Ich hoffe, dass er die Nationalmannschaft weiter trainieren wird.«
Bei aller Liebe zu seinen Deckungsspezialisten: Der Trainer plant den Abschied, obwohl er die Torverhinderer jetzt sogar zu Torschützen gemacht hat. Über Zaccardos Schuss ins eigene Netz war er natürlich nicht so amüsiert, aber Gianluca Zambrotta traf gegen die Ukraine, Fabio Grosso sorgte für das erlösende 1:0 gegen Deutschland.
Italienische Verteidiger, die immer wieder in den Angriff gehen - das hat es seit Facchettis Zeiten in den sechziger Jahren nicht mehr gegeben. Und das war auch einer der taktischen Meisterzüge von Lippi auf dem Rasenschachbrett von Dortmund. Defensive in der Offensive: Das stand nicht auf dem Spielplan des Kollegen Jürgen Klinsmann.

Artikel vom 06.07.2006