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Huber will Verdunsten
des Glaubens stoppen

Evangelische Kirche startet ihre größte Reformoffensive

Von Matthias Hoenig
Berlin (dpa). Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) startet die größte Reformoffensive ihrer Geschichte. Der jahrzehntelang anhaltende Mitgliederschwund, der Rückgang der Finanzen, vor allem aber das »Verdunsten des Glaubens« in der nächsten Generation sollen nicht nur gestoppt werden, im Gegenteil.
Will die kirchliche Arbeit neu gestalten: Bischof Wolfgang Huber.
»Wir wollen gegen den Trend wachsen«, sagte der EKD-Ratsvorsitzende, der Berliner Bischof Wolfgang Huber, bei der Präsentation des 110 Seiten dicken Impulspapieres »Perspektiven der Evangelischen Kirche im 21. Jahrhundert« vor Journalisten in Berlin. Heute wird das brisante Dokument, das nach Ansicht von Beobachtern nicht nur in der evangelischen Kirche heftige Reaktionen auslösen dürfte, von der EKD für die Allgemeinheit veröffentlicht.
Die dramatische Ausgangslage: Bis 2030 würde bei gleich bleibender Entwicklung die Zahl der Kirchenmitglieder um ein Drittel sinken, die Finanzkraft der Kirche sich sogar halbieren. Drei Optionen sieht Huber: Bei Fortsetzung der bisherigen kirchlichen Aktivitäten drohe sehr schnell »faktische Gestaltungsunfähigkeit«. Würden über alle Jahre Aktivitäten gleichmäßig abgeschmolzen, würde die Evangelische Kirche nicht mehr überzeugend wahrgenommen. Huber setzt auf die dritte Option: den Umbau und das Neugestalten der kirchlichen Arbeit.
In kurzärmligem Hemd redet sich Huber in Rage, entwirft Visionen, wie die Volkskirche die Zukunft gewinnen kann. Ein bisschen erinnert er an Martin Luther, wenn es darum geht, alte Zöpfe der Kirche abzuschneiden, verkrustete Strukturen aufzubrechen und den missionarischen Aufbruch mit Zuversicht und einem Mentalitätswandel zu wagen. Neue Gemeindeformen, die auch kirchenferne Menschen ansprechen, mehr evangelische Schulen, besser ausgebildete Pfarrer, eine Zentralisierung von Aufgaben im Bereich der EKD, wo es Sinn macht - das sind Punkte, die das von einer Kommission erarbeitete Papier nennt.
Und dann der Hammer: Die evangelischen Landeskirchen sollen von bisher 23 auf acht bis zwölf zusammengelegt werden. Viele Landeskirchen gehen in ihrer regionalen Struktur noch auf die Zeit des Wiener Kongresses 1815 zurück. Manche Kirchen haben kaum mehr als 50000 Mitglieder, andere bis zu drei Millionen. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel sind sechs Landeskirchen tätig. Umgekehrt erstreckt sich die Kirche im Rheinland auf vier Bundesländer. Die nach Meinung von Kirchenfachleuten überfällige kirchliche Föderalismusreform sollte Landeskirchen vorsehen, die sich an den Grenzen der großen Bundesländer orientieren und mindestens eine Million Mitglieder haben, heißt es in dem Papier.
Betroffen hiervon wäre beispielsweise die Lippische Landeskirche mit gerade einmal 200 000 Mitgliedern. Zur Evangelischen Kirche von Westfalen mit Sitz in Bielefeld, die die Regierungsbezirke Detmold (ohne Lippe), Arnsberg und Münster umfasst, gehören 2,67 Millionen Mitglieder.
Ein bisschen erinnert der kurzärmlige Huber an Nationaltrainer Jürgen Klinsmann, wenn er Optimismus versprüht, Teamgeist beschwört und aufruft, die Chancen der Gegenwart zu nutzen. Der sonntägliche Gottesdienstbesuch soll von vier Prozent auf zehn Prozent steigen, die Zahl von kirchlichen Trauungen, Taufen und Beerdigungen auch wieder. Kommentar

Artikel vom 06.07.2006