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Walter Jens

»Fußball beflügelt die Kultur, und in der Stunde der Wahrheit fängt die Kultur vieles auf.«

Leitartikel
Fußball und Kultur

Lauter
deutsche
Fragen


Von Matthias Meyer zur Heyde
»Sie kamen als Helden, und sie wurden zu Wurst«, hat Christoph Schlingensief, der Anarcho unter den Regisseuren, über Fußballer gespottet, die mit hohen Erwartungen antraten und kläglich scheiterten. Die deutsche Nationalelf hat er nicht gemeint, definitiv nicht, aber hören wir die Fans im Lande: »Wir sind nur ein Bockwurstlieferant«, sangen sie, als klar war, dass die Klinsmannschaft nicht nach dem Weltpokal würde greifen dürfen.
Die Deutschen scheinen Sprachbilder zu mögen, in denen es um die Wurst geht. Heißt das was? Die Frage ist eine urdeutsche - kaum taucht ein Phänomen auf, wird es gedreht und gewendet, prüfend ins Licht gehoben analysiert, zerlegt, tranchiert und mikroskopiert.
Im Bockwurst-Lied klingt, Sie haben es gehört, Selbstironie an. Nächste Frage, auch sie typisch deutsch: Können wir über uns selbst schmunzeln? Machen das die Briten nicht viel besser?
Wir schwenken schwarz-rot-goldene Fahnen, schminken uns in den revolutionären Farben von 1848 (die zuallererst antinapoleonisch, antifranzösisch waren, aber das haben wir vergessen . . .) und klemmen Deutschlandwimpel an unsere Autos. Huch! Dürfen wir das überhaupt? Was wird bloß das Ausland dazu sagen?
Auch diese Frage ist deutsch. Eine bange Frage. Das Ausland antwortet: Macht weiter so! Das ist locker, und diese Leichtigkeit des Seins hätten wir euch vor der WM gar nicht zugetraut.
Bis zum Endspiel machen wir jetzt vier Wochen lang Highlife. Steuerlast, Gesundheitsunwesen und Arbeitslosigkeit dürfen uns erst am 10. Juli wieder die Feierlaune verderben. Unbeschwert schmücken wir uns in den Partyfarben dieses Fußballsommers, hunderttausendfach, millionenfach, derweil die paar Berufsnörgler disputieren.
Hat dieses sportliche Großereignis etwas bewirkt? Noch eine deutsche Frage, aber einfach zu beantworten: Ja, sie hat uns Spaß gemacht. Viel mehr musste sie doch auch nicht leisten, man soll Klinsi, Schweini und Prinz Poldi nicht den Umbau der Gesellschaft aufbürden. Aber vielleicht kann dabei doch auch der deutsche Fußball ein wenig helfen.
Wie? Das ist keine deutsche Frage, das ist eine Frage, die ans Fundament des menschlichen Miteinanders rührt. Die Politik, sobald sie sich von ihrem Volk abzunabeln beginnt, streicht zuerst die Kulturförderung rigoros zusammen und schließt die Theater, und zuletzt - Deutschland hat das einmal erleiden müssenÊ- verbrennt sie Bücher und zertritt Lesebrillen. Den Massensport verbietet sie nicht - im Gegenteil. Rund ums Stadion aber gedeiht glücklicherweise die Euphorie, die wie von Zauberhand neuen Schwung ins Kulturleben der gelähmten Republik gebracht hat, wie Künstler, Theaterleute und Literaten derzeit erfreut beobachten. »Nach der WM kommt die Stunde der Wahrheit in Politik und Gesellschaft«, hat der fußballinteressierte Ethiker Walter Jens gesagt. »Und dann kann die Kultur vieles auffangen.«

Artikel vom 06.07.2006