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»Krankheit vorbeugen, besser
als später behandeln müssen«

Badura: Das Gesundheitswesen wird verstaatlicht - Kein großer Wurf

Von Dietmar Kemper
Bielefeld (WB). Nicht das angeblich fehlende Geld, sondern die falsche Ausrichtung ist das größte Problem des deutschen Gesundheitswesens. Das hat gestern der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Public Health (öffentliche Gesundheit), Bernhard Badura, betont. »Es wird immer nur über die Kosten geredet, nicht aber über Qualität«, ärgert sich der Bielefelder Gesundheitswissenschaftler über die aktuelle Diskussion.

Anstatt fast das ganze Geld für die Behandlung der Patienten zu verwenden, müssten die Krankenkassen die Vorbeugung unterstützen und ernster nehmen als bisher. Badura (63) rechnete vor: »Die Kassen geben pro Kopf und Jahr 2900 Euro für die kurative Versorgung aus, aber nur 2,70 Euro für Prävention.« Folglich werde in »Reparatur und nicht in die Vermeidung von Reparatur investiert«. Dass in der Politik fortwährend über Kosten gesprochen werde, habe einen einfachen Grund: »Die Berater der Regierung sind Finanz-, aber keine Gesundheitsexperten.«
Wer die Strukturen des Gesundheitssystems durchforste, finde genügend Schwachstellen. Badura nannte als Beispiel die teure Überversorgung mit Herzkathetern. Obwohl keine klaren Vorgaben existierten, wann ein Herzkatheter medizinisch notwendig ist, würden sie häufig eingesetzt. Darüber hinaus zeichne das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Vergleich mit durchschnittlich neun Tagen eine hohe Verweildauer der Patienten im Krankenhaus aus. In Dänemark beispielsweise betrage die Aufenthaltsdauer nur drei Tage. Wenn Klinik-Chefs die vermeintlich mangelhafte finanzielle Ausstattung ihrer Häuser beklagten, dann redeten sie über »die Unterfinanzierung eines Überflusses«.
Die Beschlüsse der schwarz-roten Koalition zur Gesundheitsreform nannte Badura »keinen großen Wurf«. Weder habe sich die Union mit ihrer Forderung nach einer Grundversorgung durchgesetzt, noch die SPD mit dem Prinzip der solidarischen Gesundheitsfinanzierung. »Für den Bürger ist alles noch komplizierter geworden«, bedauert Badura, der an der Universität Bielefeld die Arbeitsschwerpunkte Gesundheitsmanagement und Gesundheitspolitik hat. Wer sich die Entwicklung des deutschen Gesundheitssystems und die Modelle der Parteien anschaue, könne einen Trend zur Verstaatlichung erkennen. »Es will nur keiner das Wort aussprechen.«
Nicht zuletzt wegen der im Gesundheitswesen »extrem ausgeprägten Lobby« müssten die Versicherten wieder am meisten bluten und um 0,5 Prozent höhere Beiträge schlucken. »Irgendwann platzt dem Bürger der Kragen«, warnt Badura die Politiker. Patienten müssten endlich mitsprechen können, wenn es um Wesen und Inhalt der medizinischen Versorgung geht. Der Experte schlug vor, den Gemeinsamen Ausschuss von Krankenkassen und Ärzteschaft um Patientenvertreter zu erweitern und diese mit Sitz und Stimme auszustatten. Bislang sei die Bürgerorientierung im Gesundheitswesen mangelhaft: »Kunden werden weitgehend außen vor gelassen; Kassen und Ärzteschaft entscheiden, der Staat gibt Ziele vor und nimmt die Aufsichtspflicht wahr.«
Für den Streik junger Ärzte an kommunalen Krankenhäusern zeigte Badura Verständnis. Auch hier gehe es nicht in erster Linie um Geld, sondern um Strukturen. »Die Ärzte streiken deshalb, weil die Dienste sehr lang, die Hierarchien extrem starr und die Führung mangelhaft sind.« Patienten hätten längst beobachtet, dass junge Ärzte überarbeitet sind. Außerdem sorgten die »starken Abhängigkeitsverhältnisse« bei ihnen für Frust. So hänge der Aufstieg fast ausschließlich vom Wohl oder Wehe einer Person, des Chefarztes, ab, sagte Badura. Weil die Diskussionen rund um den Ärztestreik zu sehr auf den Faktor Geld reduziert würden, gingen solche Strukturprobleme unter.

Artikel vom 05.07.2006