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Als das »größte
Dorf Europas«
Stadt wurde

Urkunde datiert auf den 5. Juli 1956

Von Stefanie Westing
Brackwede (WB). »Die Gemeinde Brackwede im Landkreis Bielefeld, entstanden aus einer jahrhundertealten Siedlung, hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte durch den Fleiß und die Strebsamkeit ihrer Bürger, gefördert durch eine günstige räumliche Lage, zu einer bedeutenden Industriegemeinde entwickelt und durch ihre Einwohnerzahl, ihre Siedlungsform und die zum Wohle ihrer Bürger geschaffenen Einrichtungen städtisches Gepräge erlangt.« Diese Worte sind zu lesen auf der Urkunde, die der einstigen Gemeinde Brackwede die Bezeichnung »Stadt« verlieh. Ausgestellt wurde das Schriftstück heute vor 50 Jahren, am 5. Juli 1956, in Düsseldorf.

Weiter heißt es in der Urkunde: »Beachtliche soziale und kulturelle Leistungen der Gemeinde legen Zeugnis ab von dem Gemeinsinn und der Aufgeschlossenheit ihrer Bürger. Weitschauende Planungen begründen die Erwartung, daß die Gemeinde auch künftigen Aufgaben gerecht wird. In Würdigung dieser Entwicklung und des Strebens der Bürgerschaft hat die Landesregierung durch Beschluß vom 26. Juni 1956 der Gemeinde die Bezeichnung ÝStadtÜ verliehen.«
Eine imposante Entwicklung, die das ehemals »größte Dorf Europas« bis dahin mitgemacht hatte. Erstmals erwähnt wurde die Siedlung »bracwide« im Jahr 1151 in einer Urkunde des Bischofs Bernhard III. von Paderborn. Es folgten »800 Jahre wechselvoller Entwicklung«, wie der frühere Stadtdirektor Wilhelm Generotzky die Stadtwerdung kommentierte. »Aus einem kleinen Kirchdorf auf kargem, sandigem Boden wurde eine Stadt mit 26 000 Einwohnern.«
Dabei hatten die Bewohner zuvor viel erleiden müssen. Kriege und die Pest hatten die Bevölkerung gezeichnet und dezimiert. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war Brackwede ein bescheidenes Dorf mit 1000 Seelen. 1827 entstand die erste Lederfabrik. Nach und nach siedelte sich weitere Industrie an. Auch die Einwohnerzahlen stiegen. Aus »Quirkenduorp« wurde eine junge aufstrebende Stadt.
Diese begrüßte die neue Würde heute vor 50 Jahren mit Flaggenschmuck an der Hauptstraße. Drei Monate dauerte es vom 5. Juli 1956 an noch, bis der nordrhein-westfälische Innenminister Hubert Biernat die Urkunde überreichte. Der Minister betonte, dass »der Erhebung Brackwedes zur Stadt zwar keine rechtliche Bedeutung zukomme, sondern dass sie zu würdigen sei als sichtbarer Ausdruck einer kraftvollen Entwicklung und als Quell neuer Impulse für verpflichtende Aufgaben auf dem Gebiete der Selbstverwaltung«.
Am 23. Februar 1956 hatte sich der Brackweder Rat mit dem Antrag zum Erwerb der Stadtrechte befasst. Fritz Menke, zu der Zeit Brackweder Bürgermeister, wies darauf hin, dass bereits zur 800-Jahr-Feier fünf Jahre zuvor mit dem Gedanken gespielt worden war, das Dorf zur Stadt erheben zu lassen. Aufgrund »fehlender Einmütigkeit« wurden die Bemühungen zu dem Zeitpunkt aber nicht weiter verfolgt.
Nun, fünf Jahre später, wurde erneut diskutiert. Das wichtigste Argument für die Stadtwerdung, so ist im Ratsbeschluss zu lesen, lautete: Brackwede hat ein städtisches Gepräge »nach Struktur, Gebietsumfang, Einwohnerzahl und anderen, die soziale und kulturelle Eigenart der örtlichen Gemeinschaft bestimmenden Merkmalen«. Außerdem wollte man Entscheidungen selbst treffen können.
Diese Argumentation stützten auch diejenigen, die für die »Ausamtung« Brackwedes waren, also für den Rückzug Brackwedes aus dem Amtsverband. Freie Entscheidungen in Gemeindeangelegenheiten, frei von Rücksichtnahmen auf das Amt, wurden angestrebt. Das Amt nämlich hemme Brackwedes Entwicklung, schon weil es sich auch um die anderen Gemeinden kümmern müsse und daher für Brackwede selbst wenig Zeit und Energie erübrigen könne, ist in den Brackweder Heimatblättern zu lesen. In der Vergangenheit habe sich Brackwede aus eigener Kraft entwickelt und werde dazu auch in Zukunft in der Lage sein.
Erster Bürgermeister der neuen, 12,95 Quadratkilometer großen Stadt war Friedrich Menke (1902 bis 1969), der einzige Stadtdirektor Wilhelm Generotzky (1906 bis 1985). Das Haus Schillerstraße 29 (jetzt Stadtring 79) war Sitz der Stadtverwaltung.
Ehrenbürger der neuen Stadt wurden der ehemalige Gemeindevorsteher Brackwedes und Amtsbürgermeister Heinrich Aschoff (1870 bis 1961) und der Unternehmer Gerhard von Möller (1876 bis 1961). Brackwede wuchs weiter. Mit dem »Wiederbrückgesetz« wurden der Stadt mit Wirkung vom 1. Januar 1970 an Quelle, Ummeln, Holtkamp und Hambrinker Heide, ein Teil von Isselhorst, zugeordnet. Damit wurde das einst »größte Dorf Europas« praktisch ein Mittelzentrum, hatte eine Fläche von 38 Quadratkilometern und etwa 40 000 Einwohner.
Die Selbstständigkeit war aber bekanntlich nicht von langer Dauer. Nach nur 16 Jahren wurde die Stadt Brackwede im Zuge der Gebietsreform zum 1. Januar 1973 Bielefeld zugeordnet.

Artikel vom 05.07.2006