06.07.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Auf der Suche nach neuen Wegen

Wanderfreund Hermann Rieger berichtet im Erzählcafé aus seinem Leben

Brackwede (ptr). Wanderer hassen diese Momente: Der eingeschlagene Weg teilt sich in mehrere Richtungen, nur wohin die Abzweigungen führen, lässt sich nicht eindeutig erschließen, weil Schilder oder Markierungen fehlen. Bielefelds Wanderwege lassen in diesem Punkt nur wenig Wünsche offen, was nicht zuletzt ein Verdienst von Hermann Rieger (75) ist, der als Bezirkswegewart die einzelnen Routen seit drei Jahrzehnten betreut. Über seinen Lebensweg berichtete er im Erzählcafé.

Geboren wurde Rieger als Sohn eines Eisenbahners in Gütersloh. Damals waren noch Hausgeburten üblich, und da das Grundstück direkt neben der Bahntrasse von Gütersloh nach Hamm lag, habe der Vater seinen Kollegen angekündigt: »Wenn es ein Stammhalter wird, halte ich ihn euch aus dem Fenster.« Gesagt - getan. Als der Zug vorbeirauschte, präsentierte Rieger senior stolz seinen Sohn, die Kollegen revanchierten sich, indem sie die Dampfpfeife der Lok kräftig strapazierten.
Kurz nach der Geburt verschlug es Riegers Eltern nach Schildesche, wo Klein-Hermann eine glückliche Kindheit verlebte. Da die Wohnung im Haus einer Bäckerei lag, wurden die Kinder regelmäßig zu Hilfsarbeiten herangezogen: Pflaumenkuchen belegen, wobei so manche Frucht sofort in den Mund wanderte, Pfeffernüsse backen oder Weihnachtsplätzchen ausstechen. Im Winter konnte auf den zugefrorenen Wiesen Schlittschuh gelaufen werden, im Sommer jagte man dem Tonnenband hinterher, ließ selbst gebastelte Schiffe den Wiesenbach entlang schippern oder spielte Fußball auf einfache Tore, deren Pfosten durch zwei Mützen oder ein Paar Schuhe markiert wurden.
Bereits zu Schulzeiten legte die Klassenlehrerin Wert auf Bewegung in der Natur. »Unser erster Ausflug führte mit der Kleinbahn nach Enger, wo wir in der Stiftskirche das Grab Widukinds besuchten.« Den Rückweg nach Schildesche, immerhin zwölf Kilometer, sei man zu Fuß gelaufen. »Heutige Klassen würden bei solch einem Vorschlag wohl eine Revolution anzetteln«, sagt Rieger.
Der Bombenkrieg setzte der unbeschwerten Jugendzeit ein Ende. Mit 14 Jahren wurde Rieger als Erste-Hilfe-Schüler bei einem schweren Eisenbahn-Unglück eingesetzt, dessen Bilder er bis heute nicht vergessen kann. Im November 1944 folgte der Marschbefehl nach Holland. Mit dem Vorstoß der Amerikaner hieß es in überfüllten Zügen jedoch, irgendwie zurück nach Bielefeld zu gelangen. Seine Konfirmation musste in großer Eile um sieben Uhr morgens stattfinden, denn eine halbe Stunde später zwang der nächste Fliegeralarm zur Flucht in die Bunker.
Mit dem Ende des Krieges heuerte Rieger zunächst auf dem Bauernhof seines Onkels an und half bei der Ernte sowie beim Verladen der schweren Milchkannen. Später verdiente er sich Lebensmittelkarten, indem er in Bielefeld Trümmer räumte. Lehrstellen waren rar gesät, und so war er froh, aus 60 Bewerbern für eine von fünf Stellen als Verwaltungsangestellter bei der Stadt Bielefeld ausgewählt zu werden.
Hier kümmerte sich Rieger lange um den Erwerb von Grundstücken für bauliche Großprojekte wie die Universität, den Obersee in Schildesche oder den Ostwestfalendamm. Mit dem Wechsel zur Landschaftsbehörde fiel auch die Aufgabe der Wanderweg-Markierung in sein Aufgabengebiet. Die in Kindertagen erworbene Freude am Wandern hatte sich Rieger jedoch auch zuvor stets bewahrt - zuächst in einer privaten Wandergruppe, ab 1974 dann im Teutoburger Waldverein. »Sukzessiv habe ich mir zunächst Bielefeld, auf größeren Fahrten aber schließlich ganz Deutschlands erschlossen.« Immer getreu der Devise: »Ein Wanderer verläuft sich nicht, er sucht nur neue Wege.«
Insgesamt 520 Kilometer Gesamtstrecke gehören zu dem Gebiet, das Rieger mit einem 40-köpfigen Hilfstrupp regelmäßig zu überprüfen hat. Anfang der 80er Jahre führte er außerdem regelmäßige Müllsammelaktionen in den Wäldern ein, um die Wanderwege von wilden Müllkippen zu befreien. Lohn der Mühen war 1983 ein Besuch des damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens, der auf Einladung von Rieger im Verlauf seiner vielen Wanderungen durch Deutschland auch einen Abschnitt des Hermannsweges von Halle nach Bielefeld zurücklegte. Aus den Händen von Oberbürgermeister Eberhard David erhielt er für seine Mühen 2003 außerdem das Verdienstkreuz am Bande.

Artikel vom 06.07.2006