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»Jeder bringt Wünsche, aber keiner Verzichte ein. Am Ende müssen Dritte dafür aufkommen.«

Leitartikel
Gesundheitsreform

Die große
Koalition der
Abkassierer


Von Reinhard Brockmann
Mit einem dreisten Täuschungsversuch bewertete die Bundesregierung gestern den billigen Kompromiss in der Gesundheitsreform. Regierungssprecher Ulrich Wilhelm behauptete, trotz Zwangsanhebung der Kassenbeiträge um 2,50 Euro pro 1000 Euro Nettoeinkommen gebe es zum 1. Januar eine Entlastung um mehr als einen Prozentpunkt - bezogen auf die vier Sozialabgaben.
Wer Krankenkassen-, Arbeitslosen-, Solidar- und Rentenbeitrag isoliert betrachtet, kann bei wohlwollender Rechnung dem ersten PR-Mann des Staates nicht einmal eine Notlüge nachweisen. Dennoch ist alles nur Wortklauberei.
2007 wird das Jahr der dramatischsten Kostenexplosion aller Zeiten. Drei Punkte Mehrwertsteuer, zusätzliche Belastungen aufs Benzin und erhebliche Steuernachteile für Pendler und Millionen Beschäftigte, die im privaten Arbeitszimmer - meist unbezahlt - weiterschaffen. Eine ganze Reihe zusätzlicher individueller Nadelstiche ließe sich noch anfügen...
Wichtiger ist die Feststellung: Die große Koalition ist allein zu Kompromissen auf niedrigstem Niveau in der Lage. Sie schafft nicht ein Jota mehr als das, was gestern Morgen stolz und übermüdet präsentiert wurde. Einzig beim Griff in die Taschen der Bürger sind Union und SPD zum Konsens fähig. Das Muster ist immer das gleiche: Jeder bringt seine Wünsche, aber keiner seine Verzichte ein. Am Ende müssen Dritte dafür aufkommen.
Auch die Unternehmenssteuerreform, die fast unbemerkt mitausgehandelt wurde, führt letztlich zu höheren Belastungen kleiner Betriebe. Eine Vorlage für massive Kapitalflucht wurde gleich mitgeliefert. Seit Helmut Kohls Quellensteuerpleite in den 1990er Jahren dürfte allen schmerzlich bekannt sein, dass Kapital nur dann zu besteuern ist, wenn der Staat sich - wie einst der Kaiser - mit dem Zehnten zufrieden gibt. Bei 30 und später 25 Prozent »Abgeltung« hat der Finanzminister allein das Nachsehen.
Die Gesundheitspolitiker haben es versäumt, die Ausgaben zu begrenzen. Natürlich ist das hart, aber einer großen Koalition eher möglich als einer kleinen. Weder die Alterung der Bevölkerung noch der technisch-medizinische Fortschritt wurde überhaupt zur Kenntnis genommen. Auch die kaum noch zu umgehende Einschränkung des gesetzlichen Leistungskatalogs wurde nicht gewagt.
Und das Wenige, das bislang über die neue Mega-Bürokratie namens »Gesundheitsfonds« bekannt ist, nährt schlimmste Befürchtungen: eine Neuauflage der Hartz-IV-Pleite.
Schon beginnt das Abschleifen und Rundfeilen der im Gesundheitswesen besonders breit aufgestellten Lobby. Man darf gespannt sein, wie wenig im Herbst des Reformjahres 2006 wirklich beschlossen wird.
Jenseits der Rituale werden Union und SPD weiter an Wählbarkeit verlieren, kaum über je 30 Prozent hinauskommen und die Fortsetzung der großen Koalition 2009 wird wahrscheinlicher.

Artikel vom 04.07.2006