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»Einsamkeit ist oft der späte Preis für ein ich-bezogenes Leben. Mit dieser Perspektive müssen Singles leben.«

Leitartikel
Bevölkerungsstudie

Arm
und
reich


Von Jürgen Liminski
Wären Sie lieber arm und krank oder reich und gesund? Man wird auf diese Frage leicht eine Mehrheit für die zweite Option finden. Ähnlich verhält es sich, wenn man willentlich Kinderlose fragt, ob sie auch ohne Kinder glücklich sind. Auch hier ist die Mehrheit für ein engagiertes Ja garantiert. Bei den etwa zehn Prozent kinderlosen Paaren, die aus biologischen Gründen keine Kinder haben, sieht das schon anders aus.
Der Wert der Ergebnisse einer neuen Studie der Robert-Bosch-Stiftung und des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung liegt woanders und zwar in der Bestätigung der Gründe für die Kinderlosigkeit. Da sind die Angst vor Verarmung und um den Arbeitsplatz. Diese Gründe sind bekannt, aber es schadet nicht, die Politik daran zu erinnern, dass das vom Bundesverfassungsgericht so oft geforderte Unrecht an den Eltern immer noch nicht beseitigt ist.
Im Gegenteil, die Familienpolitik der Großen Koalition benachteiligt die ökonomische Lage der Familie in einem Umfang, wie es die Familien in den letzten Jahrzehnten nicht erlebt haben. Da darf man sich nicht wundern, dass der Kinderwunsch hierzulande sich weiter im Sinkflug befindet und dass die Zahl derjenigen, die kategorisch und grundsätzlich eine Elternschaft ablehnen, in Deutschland am höchsten in der EU ist. Es ist nämlich die Frage nach arm oder reich.
Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere, die den willentlich Kinderlosen unbekannte, heißt Glück und Erfüllung. Sicher, Eltern müssen manches entbehren, aber sie erleben ein emotional reiches Leben. Kinderlose können kaum nachempfinden, was Eltern fühlen, wenn sie in die großen Augen der Kinder schauen, wenn sie sehen, wie ihre Kinder sich verstehen, wenn sie spüren, dass Kinder einen Lebenssinn entdecken, der jenseits der bloßen Funktionserfüllung in einem Büro oder einer Fabrik liegt. Liebe kann man nicht sehen aber zeigen und erfahren. Und bekanntlich nicht kaufen.
Deshalb ist Einsamkeit oft der späte Preis für ein ich-bezogenes Leben. Mit dieser Perspektive müssen Singles leben. Der Staat kann sich das nicht erlauben. Er braucht Kinder zum überleben. Darin liegt der tiefe Sinn jenes Satzes, den Demonstranten in Leipzig kurz nach der Wende plakatierten: Gerechtigkeit ist das Brot des Volkes. Ohne Gerechtigkeit wird der Staat nicht mehr Kinder bekommen.
Auch die Familienministerin liegt daneben, wenn sie das Glück nur vom Beruf abhängig macht. Leben ist mehr als Arbeiten. Recht hat sie allerdings, wenn sie mehr Zeit für Eltern fordert. Denn das ist es, was Kinder sich am meisten von wünschen: Zeit. Und das braucht man auch, um einer Beziehung Qualität zu verleihen, selbst in einer Zweier-Beziehung.
Insofern bringt die Studie wie ein Hausvater Altes in neuer Form auf den Tisch. Die Diskussion darüber lohnt sich. Sie berührt die Aufgabe der Politik, Rahmenbedingungen zu schaffen. Das ist in Deutschland nicht der Fall.

Artikel vom 03.07.2006