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Noch nie sind 58 Fahrer aus dem Verkehr gezogen worden, aber ist es wirklich nur ein Skandal auf zwei Rädern?

Leitartikel
Blutsbruder Jan Ullrich

Tour
de
Farce


Von Hans Peter Tipp
»Allez, allez!« Immer schneller, immer besser: Jan Ullrich wollte wieder nach oben. Jetzt zeigt der Trend nach ganz unten. Die Indizien gegen den 32 Jahre alten Radprofi sind erdrückend. Er ist dringend verdächtig, mit eigenem Blut manipuliert zu haben.
Jan Ullrich hätte die Anschuldigungen längst mit einem DNA-Test entkräften können. Dass er es nicht getan hat, spricht gegen ihn. Auch deshalb fehlt er am Samstag bei der Tour de France.
Was sich der einzige deutsche Sieger des härtesten Radrennens der Welt bei seinem mutmaßlichen Vergehen gedacht hat, wird sein Geheimnis bleiben. War es die Gier nach dem ultimativen Erfolg, die Sucht nach Ruhm und Anerkennung oder die Angst vor dem Versagen, vor dem Scheitern, die ihn zu unerlaubten Mitteln greifen ließ? Ganz egal, was es war: Jan Ullrich, das Idol, hat damit seine zweite Chance verspielt. Öffentliche Eskapaden nach Alkohol- und Drogenmissbrauch waren ihm verziehen worden. Bei einer Überführung als Dopingsünder wäre das anders: Die Karriere wäre zu Ende.
Doch der jüngste Skandal ist nicht nur ein »Fall Ullrich«: 58 Fahrer, darunter die größten Ullrich-Konkurrenten, stehen auf der Giftliste jenes spanischen Labors. Im Radsport sind noch nie soviele Fahrer auf einmal aus dem Verkehr gezogen worden, aber ist es wirklich nur ein Skandal auf zwei Rädern? Was ist mit der Leichtathletik, dem Nordischen Skisport? Auch im Tennis und im Fußball ist Doping aktenkundig. Hat nicht der gesamte Leistungssport die Grenze zwischen Gesundheit und Geschäft überschritten?
Was sollen und was müssen die Sportler, diese bestens bezahlten modernen Gladiatoren, alles leisten: Vorbild sein für die Jugend, Identität stiften mit internationalen Erfolgen, Umsatz fördern mit Rekorden und Spitzenleistungen.
Extreme Erwartungen, übertriebener Anspruch und übertriebene Anforderungen - das ist der Nährboden, auf dem Doping gedeiht. Ohne staatliche Unterstützung wird er wohl nie ausgetrocknet werden. Denn richtig kritisch wurde es für die Sünder nur, wenn sich staatliche Behörden einschalteten: bei der Tour, beim Giro, bei Olympia in Turin und jetzt in der Giftküche von Madrid. Ein Gesetz gegen Sportbetrug wie in Frankreich, Italien und bald in Spanien wäre auch in Deutschland eine höchst willkommene Maßnahme.
Denn hierzulande liegt mit der Einnahme von Doping kein Straftatbestand vor. Strafbar ist nur die Weitergabe von Dopingmitteln für den Einsatz im Sport. Jan Ullrich betrog also -Ê wenn er es tat - auf eigene Gefahr, juristische Folgen hat er nicht zu befürchten.
Das Team T-Mobile hat schnell reagiert. Es muss sich aber erst zeigen, ob die Bonner, die mit dem Radsport das Ansehen eines tatkräftigen Konzerns pflegen wollten, nun ebensoviel Kraft aufbringen, sich weiter an die Spitze derer zu setzen, die dem Doping die rote Karte zeigen wollen.
»Allez, allez!« Eile ist geboten.

Artikel vom 01.07.2006