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»00-Siegenthaler« - Top-Spion
im Auftrag Seiner Majestät

Ein Ingenieur aus der Schweiz ist der Edel-Informant des Bundestrainers

Von Elmar Neumann
Berlin (WB). Sein Name ist Siegenthaler - Urs Siegenthaler. Er tarnt sich gerne als Chef eines Baseler Ingenieurbüros, arbeitet in diesen Tagen allerdings allein im Auftrag Seiner Majestät, König Fußball. Seit dem 9. Juni gibt die Monarchie in Deutschland ein Kurz-Comeback und auch Top-Spion »00-Siegenthaler« ist es zu verdanken, dass die Interims-Regentschaft erst mit dem WM-Finale am 9. Juli ihr (perfektes) Ende finden könnte.
Präziser Arbeiter im Hintergrund: Urs Siegenthaler.
König Fußball regiert das Land, weil Deutschland seine Gegner beherrscht - bei dieser Weltmeisterschaft bereits fünfmal in Folge. Das gelang noch keiner schwarz-rot-goldenen Auswahl in der an Erfolgen wahrlich nicht armen DFB-Geschichte. Die Protagonisten dieses Siegeszuges scheinen bekannt. Bundestrainer Jürgen Klinsmann delegiert, Jogi Löw assistiert und die Spieler leisten vorbildlich Folge. So weit, so öffentlich. Kloses Cleverness, Ballacks Ballgewandtheit und Leh- manns Leistungen vermag nahezu jeder Fan in jedem Spiel aufs Neue angemessen einzuordnen -Ê das trifft auf die Arbeit eines Urs Siegenthaler nicht im Ansatz zu.
Wenn die deutschen Spiele, wie das heutige Halbfinale gegen Italien, angepfiffen werden, hat der Schweizer sein Tagwerk längst verrichtet. Dabei muss der seit Mai 2005 für den DFB tätige Chefscout den Vergleich mit den für ihre Präzision gerühmten Uhren aus dem Land der Eidgenossen nicht scheuen, wie Klinsmann zuletzt am Beispiel Achtelfinale hervorhob: »Der Schlüssel zum Sieg über Schweden war sicherlich, dass wir mit Hilfe von Urs optimal auf den Gegner vorbereitet waren.«
Was auf die Skandinavier zutrifft, galt ebenso für die Vorrunden-Konkurrenz aus Costa Rica, Polen und Ecuador sowie den frustrierten Viertelfinal-Verlierer Argentinien. Die Gauchos nahm Urs Siegenthaler, dem sportlichen Stellenwert des Gegners angemessen, in allen drei Gruppenspielen höchst selbst unter die Lupe. In solchen Fällen sitzt er mit seinem Diktiergerät auf der Tribüne und macht nicht mehr, als auf alles zu achten, was sich da unter ihm abspielt: Von der Aufstellung, über das Spielsystem, die Standardsituationen bis hin zur Körpersprache der Spieler. So benötigt der »Klins-Mann des Vertrauens« für die Sichtung nur eines Spieles schon mal bis zu zehn Stunden. Die ausführlichen Ergebnisse werden schließlich auf einer DVD festgehalten, die nicht nur die Möglichkeit bietet, sich per Knopfdruck Kurz-Videos über die wichtigsten Akteure des kommenden Gegners zu Gemüte zu führen. Das Urteil über das Gesehene indes überlässt der Spiel(er)-Beobachter allein dem Trainerstab.
Der Bundestrainer verlässt sich auf einen seiner wichtigsten Mitarbeiter, Siegenthaler sich aber nicht nur auf sich selbst. Um persönlich möglichst viele Live-Erfahrungen sammeln zu können, arbeitet ihm an der Sporthochschule Köln unter der Leitung von Professor Jürgen Buschmann noch eine 32 Studenten starke Helferschar zu.
Fünf Mal trat die deutsche Elf mit derart vielen Informationen in der Hinterhand an und fünf Mal hinterließ sie tatsächlich den Eindruck, als sei sie für alle erdenklichen Unwägbarkeiten, die ein solcher mindestens 90-minütiger Vergleich mit sich bringen könnte, gerüstet - nicht nur, aber auch die euphorisierende Folge Siegenthalers akribischen Wirkens.
Auf diese Weise hat der 59-Jährige, der einst (1963 bis 1982) für den FC Basel, Xamax Neuchatel und die Young Boys Bern in der ersten Schweizer Liga verteidigte, auch die Teile der DFB-Führung überzeugt, die vor der Vergabe des Scout-Postens noch Berti Vogts und nicht den »namenlosen« Ingenieur aus der Schweiz favorisiert hatten. Wie gut das tut, gesteht Siegenthaler offen ein: »Die Kritik bei meiner Einstellung hat mir ein bisschen weh getan. Man sollte niemanden beurteilen, bevor man seine Arbeit kennt.« Längst ist diese Arbeit über jeden Zweifel erhaben und damit auch eine weitere auf den ersten Blick überraschende Entscheidung Jürgen Klinsmanns. »Wer mal mit Urs geredet hat, weiß, warum wir so auf ihn fixiert waren«, sagt der Erfolgscoach nur noch.
Kritiker finden sich keine mehr. König Fußball hat Deutschland fest im Griff, nicht zuletzt, weil er mit »00-Siegenthaler« eine der fähigsten Geheimkräfte zu seinen Untertanen zählt. Noch aber gibt es für den Top-Spion, der aus der Schweiz kam, zwei Missionen zu erfüllen. Schließlich will sich der Monarch nicht vor dem 9. Juli und ohne das finale Erfolgserlebnis aus diesem Land verabschieden. Siegenthaler, übernehmen Sie.

Artikel vom 04.07.2006