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Lehmanns geniale Zettelwirtschaft

Die Köpke-Akte: gute Geschichte oder doch nur Grimms Märchen?

Berlin (WB/fwk). Den Papierkram erledigte Jens Lehmann auf der Torlinie: Hinter seinem Schienbeinschoner bewahrte der deutsche Schlussmann ein Blatt auf, das ihm die Eigenarten potentieller argentinischer Elfmeterschützen verriet.

Die hatte ihm Torwarttrainer Andreas Köpke hingekritzelt. Ob das Material von Wert war oder nicht: Ruben Ayala und Esteban Cambiasso gingen Lehmann auf den Leim und zogen die Nieten des Abends. Bevor sie anliefen, holte der Torsteher die Aufzeichnungen hervor. Erkennbar studiert hat er sie nicht, nur kurz draufgeschaut. Mit seinen riesigen Handschuhen war Lehmann auch kaum in der Lage, die stark zusammengeknüllte Liste im Schnellverfahren lesefertig zu machen.
Darum ging es aber auch gar nicht. Der Psychoterror des Torwarts entfaltete auch so volle Wirkung. In beiden Duellen blieb Lehmann Sieger - erst griff er sich den Zettel, danach den Ball. »Es ist alles aufgegangen«, behauptete Köpke. Der Europameister von 1996 erzählte, dass das von ihm zusammengestellte Manuskript auch die Namen der Fahrkarten-Fußballer enthalten habe. In seinem Infokasten sollen auch schon die Vorlieben möglicher Italiener gespeichert sein.
Gute Geschichte. Aber es kann sich auch um Grimms Märchen gehandelt haben. Das jedenfalls glaubte der ZDF-Experte Jürgen Klopp. »Auf dem Zettel stand gar nichts«, vermutete der Fußballlehrer des FSV Mainz skeptisch. »Aber der Trick war natürlich genial.«
Auch Manager Oliver Bierhoff amüsierte sich königlich über die obskure Zettelwirtschaft, die verhinderte, dass Argentinien einen Blattschuss landete. In aufgeräumter Siegerlaune verbreitete der Teammanager die Mär, dass man nur Lehmanns Gedächtnisschwäche auf die Sprünge habe helfen wollen: »Auf dem Zettel stand, dass er mindestens zwei Elfmeter halten soll. Wenn der Jens konzentriert ist, vergisst er manchmal etwas. Wir haben es ihm zur Sicherheit noch einmal aufgeschrieben.«
Ob nun die gründliche Recherche oder nicht doch eher Lehmanns untrügerischer Instinkt für die Paraden verantwortlich zeichnete, war am Ende egal. Gehalten ist gehalten. Jens Lehmann verfügt ohnehin über gute Erfolgsaussichten, wenn Elfmeter auf ihn zufliegen. Der FC Schalke 04 gewann 1997 den Uefa-Pokal nach Elfmeterschießen in Mailand, weil der Torwart gegen Inter einen Strafstoß entschärfte. Zwei Jahre später hechtete Lehmann für Borussia Dortmund in einem Europacup-Elfmeterschießen gegen die Glasgow Rangers gleich dreimal in die richtige Ecke. Da gab es die Köpke-Akte noch nicht einmal.
Zuletzt im Champions-League-Halbfinale gegen den FC Villarreal wurde Juan Roman Riquelme von Lehmann zum Loser gemacht, diesmal aber befand sich der Argentinier schon nicht mehr auf dem Platz. Den verließ die deutsche Nummer 1 nach seinen Heldentaten auch recht schnell, um keine Zeit zu vergeuden. »Ich gehe nach Hause und bereite mich auf das Halbfinale vor«, behauptete der Schützenschreck, verabschiedete sich und zog sich ins Schlosshotel zurück.

Artikel vom 03.07.2006