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Atomlücke schließen mit Sonne, Wind und mehr?

Ringen um die Verlängerung von Reaktor-Laufzeiten

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Der liberale Flirt mit der Kernenergie geht weiter. Nach einer Aufsehen erregenden Äußerung aus Düsseldorf steigt in Berlin der Druck auf den rot-grünen Ausstiegskurs von Schwarz-Rot.
Plant Umweltminister Sigmar Gabriel einen Deal?

»Das will ich so nicht sagen«, entgegnete FDP-Minister Andreas Pinkwart der »Westfälischen Rundschau« auf die Frage, ob die Zeit der Reaktoren in NRW vorbei sei. Dann legte der Vize-Ministerpräsident nach: »Ich halte den Thorium-Hochtemperaturreaktor für eine zukunftsweisende Technologie. Darüber wird zu reden sein. In der Forschungseinrichtung Jülich steht uns eine Menge Sachverstand zur Verfügung. Es wäre dumm, den nicht zu nutzen.«
Das folgende Brodeln in der Düsseldorfer Gerüchteküche war absehbar. Schließlich hatten von CDU-Seite auch schon NRW-Wirtschaftsministerin Christa Thoben und Ex-Generalsekretär Herbert Reul Rauchzeichen pro Kernkraft aufsteigen lassen.
Der Innovationsminister nutzte das allgemeine Aufhorchen zu einem Dementi - »Kein Neubau eines Forschungsreaktors in NRW« - verbunden mit dem ihm viel wichtigeren Nachsatz: »Die NRW-Kompetenz in Kerntechnologie und Kernsicherheitsforschung muss erhalten bleiben.«
In Jülich, wo einst 2000 Wissenschaftler forschten, gibt es heute keine 50 Experten mehr. »Ein kerntechnisches Vollstudium ist nur noch an zwei Standorten in Deutschland möglich«, beklagt auch die energiepolitische Sprecherin der FDP im Bundestag, Gudrun Kopp aus Lippe. In Washington traf sie diese Woche beim Transatlantischen Nuklearenergieforum auf deutsche Studenten, die in den USA lernen, was Deutschlands Unabhängigkeit sichern könnte: Kernfusion, müllvermeidende Reaktoren der vierten Generation, Endlager- und Wasserstofftechnik.
Überhaupt kein Verständnis für den liberalen Kurs pro Kernkraft zeigt die mit dem europäischen Solarpreis hochdekorierte SPD-Europapolitikerin Mechtild Rothe: »Elektrizität aus Sonne, Wind, Erdwärme, Pflanzen und biologischen Abfällen kann bis 2023 - dem letzten Ausstiegsjahr aus der Kernenergie in Deutschland - nicht nur den abgeschalteten Atomstrom, sondern auch weitere fossile Energieträger ersetzen«, legt die Fachfrau aus Bad Lippspringe noch einen drauf. Zahlreiche Studien, etwa von so renommierten Instituten wie dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, hätten nachgewiesen, dass eine Energiewende auf der Grundlage von erneuerbaren Energien, Energieeffizienz und Energieeinsparung realistisch sei.
Dem widerspricht Kopp (FDP). Reihenweise gebe es Gutachten, dass die Lücke nicht zu schließen sei. Der Ausstiegsbeschluss müsse schleunigst rückgängig gemacht werden. Außerdem: Spätestens mit der 2007 anstehenden Kostenexplosion könne die große Koalition Luxuspreise für Energie nicht mehr rechtfertigen.
Zum Thorium-Hochtemperatur-Reaktor in Hamm-Uentrop bemerkt Rothe nicht ohne Süffisanz: »Der THT ist aufgrund eines schwerwiegenden Störfalles stillgelegt und verursacht bis heute Kosten von 6,5 Millionen Euro jährlich, ohne dass er eine nennenswerte Leistung gebracht hätte.« Deutschland brauche, so die SPD-Europaabgeordnete, endlich eine der Bedeutung der erneuerbaren Energien als Zukunftsbranche angemessene Förderung für Forschung und Entwicklung. Dies gelte ebenso für die Energieeffizienz und -einsparung. Auch jede weitere Laufzeitverlängerung verzögere den ökonomisch sinnvollen und ökologisch notwendigen Einstieg in eine neue Technologieära.
Unverdrossen hält Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) an der offiziellen Ausstiegslinie auch in der großen Koalition fest, obwohl Fachkreise in Berlin Hinweise auf eine Aufweichung sehen. Gabriel hat bestätigt, dass er mit den Energiekonzernen Gespräche über einen anderen Endlagerstandort als Gorleben geführt hat. Mehr nicht.
Insider sehen dahinter einen möglichen Deal, wonach die Industrie neue Probebohrungen in Süddeutschland starten und bezahlen soll, damit das längst überfällige Erkundungsergebnis für Gorleben weiter in der Schwebe gehalten werden kann - alles aus Rücksicht auf seinen Landesverband Niedersachsen. Der Preis dafür wäre eine Laufzeitverlängerung für deutsche Kernkraftwerke, um - so dann die Begründung - die kostspielige neue Endlagersuche an anderer Stelle bezahlen zu können. Kommentar

Artikel vom 01.07.2006