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Ein Helfer in allen Lebenslagen
Vor 125 Jahren begann die Geschichte des Telefonbuchs - Register, »Who's who?« und Möbelstütze
An Auflage dürfte es die Bibel längst übertroffen haben. Und noch eines hat das Telefonbuch dem »Buch der Bücher« voraus: Es wird ständig aktualisiert. Gleichwohl ist dem dienlichen Nachschlagewerk im öffentlichen Ansehen niemals auch nur annähernd so viel Achtung zuteil geworden. Vielleicht, weil es noch »so jung« ist?
Nun, immerhin 125 Jahre hat es jetzt auf dem Buckel. Exakt am 14. Juli 1881 konnten die Bewohner der alten und neuen Hauptstadt Berlin erstmals darin schmökern. Oder sagen wir einmal: einige wenige der Bewohner. Denn ganze 99 Einträge wies das von der »Fernsprech-Vermittelungs-Anlage in Berlin« herausgegebene »Verzeichniss der bei der Fernsprecheinrichtung Betheiligten« aus. Wichtige Leute, will man meinen, vom Kanzler abwärts.
Der gemeine Berliner hielt das ganze Telefongedöns dennoch für ausgemachten Blödsinn. »Das Buch der 99 Narren« taufte seine bekanntlich freche »Schnauze« das neumoderne Verzeichnis. Und jene, die darin aufgeführt waren, taten dem Mann auf der Straße in gewisser Weise sogar leid - waren die doch auf diesen »Schwindel aus Amerika«, das Telefon als solches, hereingefallen.
Nun denn, die Zeiten ändern sich. Und auch die so schadenfrohen Berliner hängen längst allesamt an der Strippe. Allein ihr Telefonbuch, das nach wie vor das dickste Deutschlands ist, nennt in zwei Bänden auf 2672 Seiten 1,2 Millionen Menschen mit deren Anschlussnummer.
Herausgegeben wird es, wie die 124 weiteren deutschen Regionalausgaben, von der Deutsche Telekom Medien GmbH (DeTeMedien) in Zusammenarbeit mit 38 mittelständischen Verlegern.
Für den Fernsprech-Kunden ist es kostenlos - finanziert wird es allein durch die darin enthaltene Werbung.
Doch zurück zu den Anfängen: Von einem Buch für Sonderlinge entwickelte sich das Telefonbuch analog zur Verbreitung der Fernsprechapparate recht flott zum gedruckten Objekt der Begierde. Denn selbst die Berliner kriegten schnell spitz, dass »der Schwindel aus Amerika« kein Hokuspokus war, sondern ein echter Luxus. Und entsprechend konnten sich das auch nur reiche Leute leisten.
»Das Amtliche« mauserte sich in der Folge ungeheuerlich. Von »Narren« sprach niemand mehr. Wer drin stand, war »in« - das Telefonbuch als »Who's who?«.
Hans-Dietrich Genscher, 1927 geborener späterer Bundes-Langzeit-Außenminister, kann sich durchaus noch an diese Epoche erinnern. Die »Reichen und Berühmten« seien, sauber sortiert von A bis Z, auf den Seiten quasi unter sich gewesen, anekdotete er jüngst bei einer Jubiläumsparty, mit welcher die Telekom den kostenlosen Bestseller in Frankfurt feierte.
Doch auch das ist natürlich längst schon Vergangenheit. Heute ist es bekanntlich schick, nicht wie Hinz und Kunz gelistet zu sein. Wichtig ist, wer in Zeiten ständiger Erreichbarkeit per Fest- und Funknetz eben nicht ständig und für jeden erreichbar ist: Geheim sei die Nummer, dann ist sie edel und gut.
Er selbst, so der Liberale, der auch seiner beachtlichen Lauscher wegen bekannt wurde, habe allerdings sogar auf dem Höhepunkt der Popularität stets unter G wie Genscher im Telefonbuch gestanden. Sein Anschluss sei darüber gleichwohl nicht zusammengebrochen. »Die meisten haben gar nicht geglaubt, dass ich das bin«, hat Hans-Dietrich Genscher seine Erklärung dafür gefunden.
Als Nachschlagwerk erdacht, bewies das Telefonbuch im Laufe seines bislang 125-jährigen Lebens aber auch viele andere praktische Seiten.
Eine nutzte nicht nur oben genannter Politiker in jungen Jahren hinlänglich. Mit dem dicken Paperback unter den Füßen konnte er als Kind wahlweise aus dem Fenster sehen oder an Schranktüren gelangen, hinter denen sich sonst Unerreichbares befand.
Möbel mit grob ungleichen Beinen oder auf stark unebenen Böden können selbst handwerklich Unbegabte per Telefonbuch zu Standfestigkeit verhelfen.
Auch die Kultur hat das Telefonbuch mannigfach befruchtet. Weshalb wohl auch der Kritiker-Papst Marcel Reich-Ranicki (86) sich, so lange ist's noch nicht her, vor den Werbekarren spannen ließ. »Hier triumphiert die Sachlichkeit«, ließ der seiner Verrisse wegen Gefürchtete das Register hochleben, »dieses Buch wird niemals redselig oder gar geschwätzig.« Und empfand er auch bei der Lektüre so manchen Dichters Langeweile, hier nicht: »Alle Bücher sind zu dick. Nur dieses nicht«, war Reichs finaler Befund.
Auch Satiriker rief das Telefonbuch auf den Plan. Ephraim Kishon selig (1924 - 2005) strickte darum seine Geschichte »Quiz« (erstmals erschienen 1974 in »Kein Öl, Moses?«): Sie erzählt von Menschen, deren Lebensinhalt darin besteht, Telefonbücher komplett auswendig zu lernen und sich dann in einem Quiz dem Wettbewerb stellen.
Georg Kreisler, der genial böswitzige Autor, Komponist und Chansonnier aus Wien - er wird übrigens in zehn Tagen (18. Juli) 84 Jahre alt - schrieb seine »Telefonbuch Polka« gewissermaßen aus demselben ab und nahm dabei die unaussprechlichen Namen seiner Mitbürger auf die Schippe:
»Alle meine Freund' stehn drin«, singt er am Klavier über das Wiener Verzeichnis, »und zwar auf Seite V: Vondrac, Vortel, Viblaschil - Voitech, Vozek, Vimlatil - Voira, Vrabl, Vrtilek - Viklasch, Vrazek, Vichnalek - Vreka, Vrba, Vikutil« ... und 32 weitere.
»Das Telefonbuch« wird vom Herbst an als Stück im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg gegeben.
Und - auch TV-Unterhaltung ist Kultur - selbst zu »Wetten, dass...?« schaffte es das Werk: Ein Kraftprotz zerriss binnen sechs Minuten zehn ausgewachsene Exemplare in acht Teile.
All dies macht deutlich: Ohne Telefonbuch geht's einfach nicht. Denn der elektronische Ableger im Internet ist schon gar kein Ersatz: »PopUps« und warten ohne Ende statt augenblicklicher Auskunft. Eine Erfindung für Narren!
Aber das ist wieder eine andere Geschichte. In 125 Jahren sprechen wir uns wieder...Ingo Steinsdörfer

Artikel vom 08.07.2006