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Patient (87) darf nicht sterben

Gericht stimmt Luftröhrenschnitt zu -ÊFamilie sieht Willen missachtet

Von Christian Althoff
Herford (WB). Das Landgericht Bielefeld hat zugestimmt, dass Ärzte des Kreisklinikums Herford bei einem 87 Jahre alten Komapatienten einen Luftröhrenschnitt durchführen. Der Eingriff war zuvor von der Frau und der Tochter des Kranken abgelehnt worden. Sie hatten auf die Patientenverfügung des Mannes verwiesen und wollten ihn in Frieden sterben lassen.

Der Mann hatte bereits mehrere Schlaganfälle erlitten, Nieren und Herz waren angegriffen. Als Ende April eine schwere Lungenentzündung dazukam, geriet der 87-Jährige in Lebensgefahr. Die Angehörigen alarmierten einen Notarzt. »Helfen Sie mir!«, soll der Rentner noch zu dem Arzt gesagt haben. Der intubierte den 87-Jährigen, um ihn beatmen zu können, und ließ ihn ins Kreisklinikum fahren.
Im Krankenhaus fiel der Rentner ins Koma. Sein Blut war vergiftet, und schlaganfallbedingt hatte er keine Reflexe und kein Schmerzempfinden mehr. Nur die maschinelle Beatmung ließ den Patienten weiterleben.
Nach etwa zehn Tagen wollten die Ärzte den Tubus aus dem Rachen entfernen und den Mann durch einen Schnitt in der Luftröhre beatmen. So sollte der Kehlkopf geschont werden, der bei längerfristigem Kontakt mit dem Tubus beschädigt wird.
Die Ehefrau und die Tochter, die ein paar Tage zuvor vom Amtsgericht Herford zu Betreuern des Komapatienten bestellt worden waren, verweigerten ihre Zustimmung zu dem Luftröhrenschnitt. Sie verwiesen auf eine Patientenverfügung, die ihr Ehemann und Vater im März 2005 ausgefüllt hatte. Darin lehnt der Rentner für den Fall, dass eine Krankheit einen tödlichen Verlauf genommen hat, lebenserhaltende oder lebensverlängernde Maßnahmen ab.
Weil Vormundschaftsgerichte seit 1999 den Betreuern die Bürde abnehmen müssen, Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen, wandte sich die Familie ans Amtsgericht Herford und beantragte, der Verweigerung des Luftröhrenschnitts zuzustimmen. Der Chefarzt der Klinik forderte dagegen, den Eingriff durchführen zu dürfen, weil er fürchtete, sich sonst der unterlassenen Hilfeleistung strafbar zu machen. Der Versuch des Gerichtes, mit dem Patienten am Krankenbett Kontakt aufzunehmen, um dessen Willen zu erfahren, scheiterte am Zustand des Mannes. Deshalb setzte das Amtsgericht eine Rechtsanwältin als sogenannten Verfahrenspflegerin ein, die für den Patienten den korrekten Ablauf des Verfahrens sicherstellen sollte. Das Gericht hörte außerdem die Angehörigen an. Unter dem Aktenzeichen 6XVII B 664 kam das Vormundschaftsgericht schließlich zu dem Ergebnis, dass der Patientenverfügung zu folgen sei. Es befürwortete deshalb die Zustimmungsverweigerung der Angehörigen und untersagte damit den Eingriff.
Am Tag darauf legte jedoch die Verfahrenspflegerin sofortige Beschwerde beim Landgericht Bielefeld ein, und dieses gab den Ärzten vier Tage später unter dem Aktenzeichen 25 T 89/06 die Erlaubnis zum Luftröhrenschnitt. Die Richter waren zu der Überzeugung gelangt, dass dem Vormundschaftsgericht in Herford die Rechtsgrundlage für eine Entscheidung gefehlt hat. Das Vormundschaftsgericht sei nämlich erst dann zuständig, wenn die Krankheit des Betroffenen »einen unumkehrbaren und tödlichen Verlauf« genommen habe. Nach Auskunft des Chefarztes habe aber bei dem 87-Jährigen der Sterbeprozess noch nicht eingesetzt. Wörtlich heißt es in dem Beschluss: »Der Umstand, dass der Betroffene aufgrund der akuten Lungenentzündung nicht mehr in der Lage ist, ohne Unterstützung zu atmen, stellt keine Krankheit dar, die einen unumkehrbaren, tödlichen Verlauf genommen hat.« Bei dem Luftröhrenschnitt handele es sich nicht um eine zusätzliche lebensverlängernde Maßnahme, sondern nur um den Ersatz einer anderen Beatmungstechnik.
Der 87-Jährige ist inzwischen nach Hause entlassen worden und wird dort rund um die Uhr von Frau und Tochter gepflegt. Er liegt weiter im Koma, Gähnen und das gelegentliche Öffnen der Augen sind die einzigen Lebenszeichen. Neben dem Bett des Mannes steht ein Gerät, mit dem der Rentner nun durch den Luftröhrenschnitt beatmet wird.
Die Angehörigen hätten dem Mann dieses Dahinsiechen gerne erspart. Sie sind der Überzeugung, dass das Landgericht den Willen des 87-Jährigen missachtet hat und kritisieren, dass die Richter den Patienten nicht im Krankenhaus aufgesucht hatten. »Sie hätten zwar nicht mit ihm sprechen können, aber sie hätten einen Eindruck von seinem Zustand gewonnen«, sagt eine Verwandte.
Der Chefarzt erklärte, das Landgericht sei einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes von 2003 gefolgt und habe nicht anders entscheiden können: »Es wäre verbotene Sterbehilfe gewesen, hätten wir dem Kranken die weitere Versorgung verweigert.«

Artikel vom 01.07.2006