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Nach Einmarsch in Palästina: Israel nimmt Minister fest

Hamas-Politiker sollen vor Gericht gestellt werden - entführter Siedler tot

Tel Aviv/Ramallah (dpa). Israel hat in einem beispiellosen Militäreinsatz fast die komplette Führung der regierenden Hamas-Organisation im palästinensischen Westjordanland festgenommen. Vier Tage nach der Verschleppung eines israelischen Soldaten in den Gazastreifen nahm die Armee mehr als 60 Hamas-Mitglieder in Gewahrsam, darunter Minister und Parlamentsabgeordnete.

Sie sollen wegen Beteiligung an Terroraktivitäten vor Gericht gestellt werden. »Ein Terrorist ist ein Terrorist, da interessieren politische Titel nicht«, sagte eine Militärsprecherin in Tel Aviv. Verteidigungsminister Amir Perez billigte weitere Schritte der Militäroffensive im Gazastreifen.
US-Außenministerin Condoleezza Rice rief alle Seiten zu Besonnenheit auf. Die jüngste Krise unterstreiche die Notwendigkeit, dass alle Parteien der Palästinenser in einer Koalition gegen den Terror kooperierten, sagte Rice in Moskau. »Wir fordern auch Israel zur Zurückhaltung auf«, ergänzte sie.
Derweil bestätigte Israel den Tod eines entführten israelischen Siedlers. Der 18-Jährige sei vermutlich schon kurz nach seiner Verschleppung im Westjordanland am Sonntag erschossen worden. Die radikale Palästinensergruppe Volksbefreiungskomitee hatte gedroht, Elijahu Ascheri zu töten, sollte die in der Nacht zum Mittwoch begonnene israelische Armeeoffensive im Gazastreifen nicht beendet werden. Zu dem Zeitpunkt war der Entführte aber offenbar schon tot.
Ein weiterer seit Mittwoch vermisster Israeli wurde gefunden und ist nach Angaben der Behörden eines natürlichen Todes gestorben. Auch gestern waren weite Teile des Gazastreifens nach der Bombardierung des Kraftwerks ohne Strom und Wasser.
Die israelische Armee stand gestern weiter im südlichen Gazastreifen, in den sie erstmals seit ihrem Abzug vor mehr als neun Monaten wieder eingerückt ist. Berichte über eine Ausweitung der israelischen Militäroffensive auf den nördlichen Teil des Gazastreifens in der Nacht zum Donnerstag wurden indes von beiden Seiten dementiert.
Im südlichen Chan Junis hatten israelische Kampfflugzeuge unter anderem eine Lagerhalle unter Beschuss genommen, in der angeblich Waffen und Kassam-Kleinraketen gelagert wurden. Damit setzte das Militär den Einsatz mit dem Codenamen »Sommerregen« fort, mit dem der verschleppte 19-jährige Soldat Gilad Schalit freikommen soll.
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas verurteilte die Festnahme von Ministern und Abgeordneten. Er rief die internationale Gemeinschaft auf, sich für eine Beendigung der israelischen Maßnahmen einzusetzen. Die Europäische Union beorderte ihren Nahost-Sondergesandten, den Belgier Marc Otte, in die Krisenregion. Dieser solle binnen weniger Stunden mit den Konfliktparteien in Kontakt treten, teilte die EU mit.
Die Hamas verurteilte die Festnahmen als von langer Hand geplant. Der Hamas-Sprecher Ahmed Bahar sagte in Gaza, Israel nutze die Verschleppung des Soldaten in den Gazastreifen nur als Vorwand für den Militäreinsatz im Westjordanland. »Solche Taten waren seit der palästinensischen Parlamentswahl geplant. Die Festnahmen dienen nicht dazu, Druck auf Hamas zur Freilassung des Soldaten zu machen«, sagte Bahar. Israel sei für die Konsequenzen voll verantwortlich.
Eine Armeesprecherin sagte, eine Freilassung der mehr als 60 festgenommenen führenden Hamas-Mitglieder sei zunächst nicht zu erwarten. Die Minister und Parlamentarier sollten so rasch wie möglich dem Haftrichter vorgeführt werden, dann solle ein juristisches Verfahren eingeleitet werden. Es gebe aus israelischer Sicht keine Trennung zwischen politischer und militärischer Führung der Hamas.
Militante Palästinenser sprengten einen Durchgang in die Grenzmauer zwischen dem Gazastreifen und Ägypten. Augenzeugen berichteten, mehrere hundert Palästinenser seien aus Ägypten in den Gazastreifen gelaufen, um zu ihren Familien zu gelangen. Der offizielle Grenzübergang Rafah ist gesperrt. Zwei militante Palästinenser aus den Reihen des Islamischen Dschihad überlebten in Gaza einen israelischen Luftangriff auf ihr Auto.

Artikel vom 30.06.2006