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Stephan Grünewald,
Diplom-Psychologe

»Die Frage des Kinderkriegens wird oft zur fast unlösbaren Schicksalsfrage.«

Leitartikel
Risiko des (Fußball-)Lebens

Zufall und
Schicksal
unerwünscht


Von Andreas Schnadwinkel
Als Ende Mai ein 16-Jähriger bei der Feier zur Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofs 28 Menschen mit Messerstichen verletzte, kam eine Sicherheitsdebatte auf, wie sie typischer nicht hätte verlaufen können. Unmittelbar vor Beginn der Fußball-WM standen plötzlich die Sicherheitskonzepte für das Turnier in der Diskussion.
Wäre es nach den Bedenkenträgern gegangen, gäbe es keine öffentlichen Fan-Partys beim sogenannten »Public Viewing«. Und zwar mit der Begründung, dass man eben nicht ausschließen könne, dass ein verwirrter Amokläufer in der jubelnden Menschenmenge um sich schießen oder stechen könnte.
Nach dieser absurden Denkweise müsste man das Leben einstellen. Doch ihr wohnt der durchaus nachvollziehbare, aber unrealistische Wunsch und Glaube nach absoluter Sicherheit inne.
Wie wenig die Menschen heute Schicksal und Zufall als maßgebliche Faktoren ihrer Existenz zu akzeptieren bereit sind, das belegen 20000 Tiefeninterviews des »rheingold«-Forschungsinstituts. Dessen Leiter Stephan Grünewald hat die Ergebnisse in »Deutschland auf der Couch« (Campus-Verlag) veröffentlicht.
»Schicksalsschläge wie ernste Krankheiten, schwere Unfälle oder die Konfrontation mit dem Tod von Freunden oder Angehörigen erscheinen uns heute wie fremde, böswillige und eigentlich unentschuldbare Betriebsstörungen.« Sogar die Entscheidung für ein Kind, sagt der Diplom-Psychologe Stephan Grünewald, werde heutzutage »als Betriebsstörung des Lebens der unbegrenzten Möglichkeiten gesehen«.
Und die Vollkasko-Mentalität gegen das allgemeine Lebensrisiko - im Straßenverkehr und überall dort, wo sich Menschen selbstbestimmt bewegen (dürfen) - ist Ausdruck dieser Einstellung.
Was das Schicksal im Leben ist der Zufall im Fußball. Professor Martin Lames von der Universität Augsburg hat untersucht, nach welchen Gesetzmäßigkeiten Tore fallen. Er ist zu einem Ergebnis gekommen, das nicht jedem gefällt: Der Zufall spielt im Fußball eine Hauptrolle, etwa 40 Prozent aller Treffer resultieren daraus.
Nähmen wir es so gelassen hin, wenn das deutsche Nationalteam am morgigen Freitag bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land ausschiede, weil der Ball vom Innenpfosten zufällig nicht ins argentinische Tor fliegt? Über Wohl und Wehe entscheiden dabei Millimeter bei der Berührung des Balles durch Fuß oder Kopf. Ließe uns - die Gute-Laune-Weltmeister und Party-Gastgeber - eine zufällige Niederlage der Klinsmannschaft im Viertelfinale zurück ins bekannte Verhaltensmuster zwanghafter Sündenbock-Sucher fallen?
Zumindest für den Moment scheint die Fußball-WM mehr freisetzen zu können, als man erwartet hätte. Wie schnell sich die positiven Auswirkungen des Weltfestes auf die Volksseele verflüchtigen, wird man sehen.
Aber um Zufall und Schicksal akzeptieren zu lernen, müsste unsere Mannschaft gegen Argentinien nicht unbedingt verlieren.

Artikel vom 29.06.2006