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Ganze Regionen schon instabil

Schwerste Anschlagsserie auf die Bundeswehr in Norden Afghanistans

Von Can Merey
Neu Delhi/Kabul (dpa). Die Rebellen stoppten das Bundeswehr-Fahrzeug bei Kundus in Norden Afghanistans gestern um 1.30 Uhr mit einer Panzerfaust. Dann warteten sie kaltblütig darauf, dass die Verstärkung in den Hinterhalt geriet.
Der als relativ sicher geltende Norden erlebt eine schwere Anschlagsserie.

500 Meter vor dem Anschlagsort, wo drei verletzte Soldaten auf ihre Kameraden warteten, schossen die Extremisten wieder mit Panzerfäusten auf die Verstärkungskräfte - zum Glück verfehlten sie diesmal ihr Ziel. Am 1. Juni hat die Bundeswehr das Kommando über die Internationale Schutztruppe ISAF übernommen. Seitdem durchlebt die Truppe die schwerste Anschlagsserie im Norden des Landes seit dem Sturz der Taliban 2001.
Am 10. Juni wurde das neue deutsche Feldlager in Masar-i-Scharif erstmals angegriffen, die Rakete traf allerdings nicht. Wenige Tage später wurden an den Standorten Feisabad und Kundus fast zeitgleich Anschläge auf die Bundeswehr verübt. Am Dienstag dann bekamen die Angriffe in der Region, die für afghanische Verhältnisse vor wenigen Monaten noch als relativ ruhig galt, eine neue Qualität: Erstmals wurde die Truppe in Nordafghanistan Ziel eines Selbstmordattentats. Neun Stunden später kam es nun zu den jüngsten Angriffen. Insgesamt wurden bei der Anschlagsserie fünf deutsche Soldaten verletzt. Schlimmeres verhinderte oft nur die Panzerung der Fahrzeuge.
»Das ist eine Häufung von Anschlägen, die wir befürchtet, aber auf keinen Fall erwartet haben«, sagt der NATO-Sprecher für die Nordregion, der deutsche Oberstleutnant Markus Werther, in Masar-i-Scharif. Er spricht von einer »schwierigen Situation«. Die herrscht im ganzen Land: Die Sicherheitslage in Afghanistan gilt als so schlecht wie noch nie seit dem Ende des Taliban-Regimes. Die US-geführten Koalitionstruppen reagierten auf das Wiedererstarken der Taliban mit der Operation »Mountain Thrust« (»Vorstoß in die Berge«), ihrer größten Offensive seit viereinhalb Jahren.
Besonders im Süden und Südosten sterben bei »Mountain Thrust« jede Woche, manchmal auch jeden Tag, Dutzende Taliban-Kämpfer. In den vergangenen drei Monaten kamen in Afghanistan bei Anschlägen und Kämpfen mehr als 1100 Menschen ums Leben, darunter hunderte Rebellen und mehr als 30 ausländische Soldaten. Dass die Rebellen durch die hohen Verluste wesentlich geschwächt würden, dafür gibt es keine Anzeichen. Im vergangenen Vierteljahr verübten sie alleine 30 Selbstmordanschläge - im Schnitt einen alle drei Tage. Ihre vielen anderen Anschläge und Angriffe zählt kaum noch jemand.
Den Rebellen gelingt es, ganze Regionen instabil zu halten und von Wiederaufbau und Entwicklung abzuschneiden. Ein Teufelskreis, denn der Frust über mangelnden Fortschritt treibt Afghanen wiederum den Taliban in die Arme. Dass sich allerdings mit brachialen Militäroffensiven wie der der Koalitionstruppen die Herzen der Menschen für die Demokratie gewinnen lassen, daran glaubt kaum jemand.
Das Blutbad scheint inzwischen auch dem afghanischen Präsidenten Hamid Karsai unheimlich geworden zu sein. Vergangene Woche forderte Karsai die internationale Gemeinschaft eindringlich dazu auf, ihre Vorgehensweise im Anti-Terror-Kampf zu überdenken.

Artikel vom 29.06.2006