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»Der mit den Füßen spricht«

Andrea Pirlo: Das wortkarge Genie im italienischen Mittelfeld

Hamburg (dpa). Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Im Schatten der beiden großen Rivalen Francesco Totti und Alessandro Del Piero hat sich der kleine Mittelfeldspieler Andrea Pirlo vor dem Viertelfinale gegen die Ukraine still und heimlich zum wahren Regisseur des italienischen Star-Ensembles gemausert.
Reden ist nicht seine Stärke: Andrea Pirlo (AC Mailand).

»Pirlo ist unser leiser Führer. Er lässt seine Füße für sich sprechen«, lobte Nationaltrainer Marcello Lippi seinen schüchternen Star. »Pirlo ist ein Genie«, sagte kein Geringerer als Johan Cruyff über »den Mann, der mit den Füßen spricht«. Pirlo hat die Rolle des defensiven Mittelfeldspielers völlig neu erfunden. »Er ist ein Zico vor der Abwehr«, sagte Brasiliens Nationaltrainer Carlos Alberto Parreira. Andere vergleichen die Rolle des 26-fachen Nationalspielers mit der eines Quarterbacks im American Football. Seine weiten Pässe über 50 Meter sind präzise, seine Fernschüsse hart und beim Dribbeln scheint ihm der Ball am Fuß zu kleben. »Wenn ich Andrea mit dem Ball sehe, frage ich mich, ob ich mich überhaupt Fußballer nennen darf«, sagte Teamkollege Gennaro Gattuso. Den Kämpfer beeindruckt neben Pirlos technischer Extraklasse auch der unbändige Einsatzwillen.
»Mit Pirlo würde Brasilien jede WM gewinnen«, sagte Rivaldo, als der Italiener ihn in den gemeinsamen Tagen beim AC Mailand noch mit Zauberpässen fütterte. Auch der ukrainische Stürmerstar Andrej Schewtschenko lobt Pirlo in den höchsten Tönen. Jetzt fürchtet der Ex-Mailänder seinen früheren Teamkollegen im Viertelfinale von Hamburg.
Totti und Del Piero streiten sich täglich um ihren Platz, Pirlo hat seinen Stammplatz bei dieser WM sicher. Das war nicht immer so: Der 1,77 m große Mann aus Brescia ist ein Spätstarter. Nach seinem Serie A-Debüt mit nur 16 Jahren in Brescia wurde er als Supertalent hochgejubelt, dann aber schnell zum Versager abgestempelt, als er bei Inter Mailand als Spielmacher nicht zurecht kam. Abgeschoben in die Provinz landete Pirlo schließlich auf wundersame Weise beim AC Mailand, wo Trainer Carlo Ancelotti seine Bestimmung erkannte und ihn um wenige Meter nach hinten versetzte. Wenige Meter, die Pirlo einen Riesenschritt nach vorne brachten. Bei Milan wuchs er so in die Rolle eines echten Regisseurs und gewann 2003 die Champions League und 2004 den Meistertitel.
»Und jetzt sind wir hier, um Weltmeister zu werden«, sagt Pirlo und klingt dabei überhaupt nicht arrogant. Aus dem schüchternen Jungen ist ein Führungsspieler geworden. Nicht von ungefähr schoss er das befreiende erste Tor im Auftaktspiel gegen Ghana. Ins Rampenlicht drängte er sich dennoch nicht. Statt mit Models durch Mailands Nachtleben zu ziehen, genießt Pirlo das Familienleben mit Frau Deborah und dem dreijährigen Sohn Niccolo. Der hatte sich von Papa vor dem Ghana-Spiel am Telefon ein Tor gewünscht, erzählte Pirlo. Ob Niccolo vor dem Spiel heute wieder angerufen hat, verriet er nicht.

So spielen sie
Italien: 1 Buffon - 19 Zambrotta, 5 Cannavaro, 6 Barzagli, 3 Grosso - 16 Camoranesi, 8 Gattuso, 21 Pirlo, 20 Perrotta - 10 Totti - 9 Toni
Ukraine: 1 Schowkowski - 22 Swiderski, 6 Russol, 17 Waschtschuk, 2 Nesmatschni - 9 Gussew, 4 Timoschtschuk, 14 Gussin, 19 Kalinitschenko - 11 Rebrow (16 Worobej) - 7 Schewtschenko
Schiedsrichter: De Bleeckere (Belgien)
bisherige Duelle: 2 - 1 - 0

Artikel vom 30.06.2006