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»Droge« Fußball treibt ihn an

Argentiniens Trainer José Nestor Pekerman ist ein echter Gentleman

Berlin (WB). Nein, wie ein Fußball-Trainer sieht er nicht aus, dieser José Nestor Pekerman. Er könnte auch Hochschul-Professor sein. Oder Chefarzt. Oder Schriftsteller.

Ein Intellektueller, der sich im Stadion nur verirrt hat? No, no, sagt Señor Pekerman: »Ich bin hier richtig. Dieses Spiel ist meine große Leidenschaft.« Argentiniens Coach und seine öffentlichen WM-Auftritte vor Kameras und Mikrofonen: eloquent, gelassen - und immer höflich. Jede Spielkommentierung beginnt bei ihm zunächst mit einem freundlichen »Guten Tag« oder »Guten Abend«.
Dann folgen klare Analysen, aber er spielt auch oft den Meister des verbindlich-Unverbindlichen. Da sagt Pekerman dann Sätze wie diesen: »In einem Spiel kann so viel passieren.« Beim DSF-Talk müsste der 57-Jährige dafür das Phrasenschwein füttern. Bei der WM trägt er diese »Weisheit« mit einem so wichtigen Gesichtsausdruck vor, dass man fast glauben muss: Mensch, der Mann hat ja Recht. Das hat noch keiner erkannt. Aber Pekerman kann auch anders. Dann fällt die Maske der Zurückhaltung.
Wie in der Verlängerungspause des Achtelfinals gegen Mexiko. Er stand wie ein Guru vor seinen Spielern, die Augen funkelten - und der Argentinier hatte in diesem Moment verdammt viel Ähnlichkeit mit Christoph Daum, der ja ebenfalls Mannschaften mit flammenden Appellen hochputschen kann. Ob auch Pekerman Drogen-Probleme hat, wurde bisher nicht kolportiert. Sein »Stoff« ist der Fußball. Der fasziniert ihn. Der treibt ihn an.
Als junger Trainer musste er noch nebenbei Taxi fahren und kellnern, heute serviert er der staunenden Fußball-Welt eine argentinische Nationalmannschaft, die sich bei diesem Turnier in die Favoritenrolle gespielt hat. Weltmeister ist Pekerman ja schon. Sogar drei Mal. 1995, 1997 und 2001 führte er die Junioren der Argentinier zum Titel.
Seit September 2004 sitzt er jetzt auf der wichtigsten Ball-Bank des Landes - und soll sein richtiges Meisterstück machen. César Luis Menotti, der legendäre Vorgänger, der Argentinien 1978 zum ersten WM-Triumph führte, traut ihm das zu: »José liefert erstklassige Arbeit ab. Er lässt schnellen und attraktiven Fußball vorführen.« Und der sieht bei Pekerman so aus: »Dieses Spiel ist eine Mischung aus taktischer Ordnung, emotionaler Stabilität, Siegermentalität und der Leistungsfähigkeit meiner Leute in den entscheidenden Augenblicken.«
Hört sich kompliziert an, sieht auf dem Platz aber ganz einfach aus. Leicht und locker wie im zweiten Spiel der Vorrunde in Gelsenkirchen, als sie mit Serbien-Montenegro beim 6:0 den Fußball-Tango tanzten. Am Rasenrand steht der Dirigent Pekerman, der nicht den »Dompteur« spielen muss. Denn 17 seiner 23 WM-Kandidaten betreute er schon in den Junioren-Mannschaften. Sie wissen, wie er tickt, was er will - und er weiß, was sie können oder noch besser machen sollten. Pekerman bleut ihnen immer wieder ein: »Ihr dürft nicht zu aggressiv auftreten, dann vergesst ihr, was auf dem Platz wirklich zu tun ist: Ihr sollt eure Klasse in Tore und Siege umsetzen.« Gentleman Pekerman.
Er zähmte die einst so wilden Gauchos, die früher nicht selten Rot sahen. Fairplay steht in seiner persönlichen Werte-Liste ziemlich weit oben. Nur der Ball soll getreten werden, nicht der Gegner. Es gefällt ihm deshalb gar nicht, dass Argentinien schon acht Gelbe Karten auf dem Konto hat. Der nächste Rivale aber erst fünf.
Der heißt Deutschland. Das Berliner Viertelfinale wird für Pekerman zur wichtigsten Partie seines Trainer-Lebens. Nimmt seine Mannschaft auch diese hohe Hürde? Kann sie die hohen Erwartungen in Buenos Aires erfüllen, wo alle mit dem Titel rechnen? Der enorme Druck hat Pekermans Gesicht in den vergangenen Wochen noch schmaler gemacht. Die langen Haare sind auch ein bisschen grauer geworden.
Klar, er will Weltmeister werden. Aber wenn Argentinien heute in Berlin gegen Deutschland scheitert - was dann, Señor Pekerman? Der Trainer lächelt gelassen und sagt ganz ruhig: »Eine Niederlage im Fußball ist doch nicht das Ende der Welt.«

Artikel vom 30.06.2006