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Dank Kabinenpredigt zum Wir-Gefühl

Auch Klinsmanns Hintermänner halten heute wieder eine Ansprache vor dem Spiel

Von Friedrich-Wilhelm Kröger
Berlin (WB). Die Spannung schleicht sich langsam an. Meistens krabbelt sie am Abend vorher in die Magengrube. Dann beginnen die Gedanken nur noch um das Spiel zu kreisen.

Es wird schon etwas stiller im Innern der Mannschaft, manche verkrümmeln sich gleich nach dem Abendessen auf ihre Zimmer. Der beliebteste Zeitvertreib ist dieses Mal auch ausgefallen. Es gab gestern kein WM-Spiel, dass sich die deutschen Fußballer hätten anschauen können. Ruhetag. Für sie kommt es der Ruhe vor dem Sturm gleich. Argentinien wartet.
Es wird keine Partie wie jede andere heute Nachmittag. Es ist auch mehr als ein WM-Viertelfinale wie jedes andere. Sogar die Reservisten spüren das. Einer von ihnen ist Oliver Kahn. Er hat nichts, dass er hüten müsste, deswegen vermisst der Torwart auch »die ganz große Anspannung«, die ihn sonst befällt. »Aber den Kitzel«, sagt er, »den fühle auch ich.«
Er hat bei diesem Turnier schon dazu beigetragen, die Sache anzukurbeln. Vor dem Anpfiff gegen Polen war das. Da sprach Kahn in der Kabine zur Mannschaft. »Beeindruckend« fand Christoph Metzelder den Auftritt von einem, der immer noch glaubt, er gehöre auch auf den Platz und nicht auf die Parkbank. Die Einsatzchance vom Bundestrainer erhalten aber alle, die dort sitzen. Jürgen Klinsmann nominiert jedes Mal einen Vertreter der nur sehr wenig oder gar nicht Beschäftigten für eine kleine Kabinenpredigt. Seine Wahl fiel auch schon auf David Odonkor, Jens Nowotny und Thomas Hitzlsperger, die alle ein paar selbst ausgedachte Sätze sagten.
Wer vor dem Duell mit Argentinien das Wort ergreift, entscheidet Klinsmann heute Morgen. Mike Hanke, Gerald Asamoah oder Timo Hildebrand könnten dazu aufgefordert werden. Die Mannschaft sollte gut zuhören, denn sie steht ihren Hintermännern gegenüber in der Pflicht. Wenn noch alle in die Bütt sollen, muss sie bis zum finalen Wochenende durchhalten.
Das ist auch so ein kleiner Motivationstrick von Klinsmann. Das Heißmachen nach dem Warmmachen übernimmt er selbst. Noch vor dem Kick schließt sich der Kreis. Die Spieler sammeln sich und warten mit den Armen über den Schultern in leicht gebückter Haltung auf das Kommando des Einpeitschers vom Tage: »Wir sind ein. . .« - und dann alle: »Team!«
Der hehre Ruf - oft in dreifacher Ausführung - geht nicht notwendigerweise direkt in einen Sieg über, für den Familienanschluss ist er allerdings gut. So müssen sich auch die entfernten Verwandten nicht ausgestoßen vorkommen. »Wir wissen, dass wir uns auch um die Spieler kümmern müssen, die vielleicht nicht so zum Zuge kommen, wie sie sich das vorstellen«, sagt der Trainer einfühlsam.
Von dieser Seite gibt es nur wenig zu befürchten, »mitreden« dürfen sie schließlich. Zu anderer Zeit hätte die zweite Reihe früher oder später Krach geschlagen, und es ist wahrscheinlich so, dass das aktuelle Kabinenritual in der Vergangenheit der Egomanie der Rudelsführer zum Opfer gefallen wäre. Oder hätte man sich Lothar Matthäus vorstellen können, wie er »wir sind ein Team« heraushaut?
Klinsmann führte das »Wir-Gefühl« auf eine neue Ebene, die auf Außenstehende allerdings manchmal den Eindruck macht, es handele sich um eine geschlossene Veranstaltung ohne Eingangstür. Die Gesellschaft möchte unter sich bleiben. Es geht ja auch um ein großes Ziel. Klinsmann will alle störenden Einflüße vermeiden, aber alle voll einbeziehen, die er zu sich gerufen hat. Sie sind ein Team. Als nächstes sollen es die Argentinier kennenlernen.

Artikel vom 30.06.2006