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Die Künstler
im Korsett
der Taktik

Brasilien spielt nicht brasilianisch

Von Klaus Lükewille
Dortmund (WB). »Wir sind hier nicht für die Show zuständig.« Der brasilianische Trainer Carlos Alberto Parreira hatte schon nach der Auftaktpartie gegen Kroatien (1:0) klar gestellt: Nein, seine Mannschaft soll nicht zaubern und tricksen, sie will den Titel gewinnen.

Künstler im Korsett der Taktik, so trat der fünffache Weltmeister bisher in Deutschland auf. Auch der 3:0-Sieg im Achtelfinale gegen Ghana war wieder so ein Erfolg der kühl kalkulierten Strategie. In der Heimat werden die Darbietungen inzwischen als »Bürokraten-Fußball« kritisiert, die Londoner »Times« schlug ebenfalls scharfe Töne an: »Brasiliens Spiel hat einen bitteren Geschmack.«
Parreira stößt das nicht sauer auf. Er geht stur seinen Weg und sagt: »In den Geschichtsbüchern steht später, wer 2006 Champion geworden ist - und nicht wer den schönsten Ball gespielt hat.« So sieht er das. Und so schickt er seine Asse auf den Rasen. Mit strengen Vorgaben. Erst einmal kommt die Torsicherung, dann der Torschuss.
»Titel werden nur über eine gute Abwehr gewonnen«, weiß Parreira. Wie gegen Ghana: da baute er nach einer Stunde noch eine zusätzliche Sicherung ein. Angreifer Adriano musste raus, Mittelfeldmann Juhinho kam für ihn rein. Der Rest war Routine.
Parreira kann sich diese antiquierte Taktik leisten, weil er in seinem Ensemble gleich mehrere Solisten hat, die jedes Spiel mit einem Geniestreich entscheiden können. Ausnahme-Fußballer wie Ronaldo, Kaka oder Ronaldinho. Irgendeiner wird immer zuschlagen. Bisher ging dieses Konzept auf. Vier Spiele. Vier Siege.
»Wir müssen uns aber steigern, wir müssen besser und vor allem geschlossener auftreten«, forderte Kaka nach dem Erfolg gegen Ghana. Denn es war nicht zu übersehen: Die Abstimmung mit seinem Mittelfeld-Kollegen Ronaldinho, die klappte nicht optimal. Mehrfach spielten die Stars aneinander vorbei und Kaka beschwerte sich einmal laut: Ronaldinho hatte ihn doch glatt »übersehen«, war lieber allein los marschiert. Der Mann mit dem Pferdeschwanz spielt bisher weit unter seinem Niveau. Noch keine starke Partie. Noch kein Tor.
Dafür traf Zé Roberto in Dortmund zum 3:0, wurde sogar zum »Spieler des Tages« ernannt. Er grinste: »Das war beste Eigenwerbung. Denn in ein paar Tagen bin ja arbeitslos, vielleicht ruft jetzt ein Verein an.« Für die Bayern will Zé Roberto ja nicht mehr kicken, hier fühlte er sich zu wenig anerkannt. In Brasiliens Team ist er eine feste Größe. Wie zwei andere Liga-Asse: Lucio (Bayern) und Juan (Leverkusen) gehören ebenfalls zum Stammpersonal. Und selbst Gilberto, der bei Hertha keine große Saison ablieferte, hatte schon zwei WM-Einsätze.
Parreira bieten sich noch viel mehr Alternativen - aber er will sie nicht nutzen. Nur gegen Japan, als die Achtelfinal-Teilnahme schon sicher war, ließ er mehrere Spieler aus der zweiten Reihe ran. Es sollte der bisher sehenswerteste Auftritt werden - weil die Reservisten sich natürlich für die erste Formation anbieten wollten.
Doch das interessiert den Trainer nicht. Gegen Ghana setzte er wieder auf seine alte Garde. Kapitän Cafu, immerhin schon 37, gehört dazu und sieht Fortschritte: »Wir machen in jedem Spiel weniger Fehler.«
Das ist ganz im Sinne seines Herrn, denn Parreira gilt als Fan der Spiel-Kontrolle. Doch ganz fehlerlos werden selbst sie durch keine Partie kommen, diese brasilianischen Ball-Artisten. Schon gar nicht im nächsten Duell. Dann wartet Frankreich in Frankfurt, dann könnte am Samstag (Anpfiff: 21 Uhr) die Revanche für das mit 0:3 so deutlich verlorene WM-Finale von 1998 steigen.
Parreira will gewinnen. Wie? Geplant ist sein Spiel im alten Stil. Hinten dicht, vorne wird schon ein Geistesblitz von Ronaldo, Kaka oder Ronaldinho einschlagen. Nur das Resultat zählt. Und wenn seine Elf dabei endlich mal auch besser aussehen sollte, um so schöner. Zé Roberto hat es versprochen: »Gegen große Mannschaften kann Brasilien eher glänzen.«
Also dann - Bühne frei. Bei einer WM ist Zaubern nicht verboten.

Artikel vom 29.06.2006