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Ballack findet die Balance

Der Kapitän ist immer öfter hinten und nicht mehr so weit vorn

Von Friedrich-Wilhelm Kröger
Berlin (WB). Menschen ändern sich. Manchmal passen sie sich den Umständen an, weil sie erkennen, dass es besser so für sie und ihre Umgebung ist. Fußballspieler ändern sich auch. Michael Ballack ist nicht mehr Michael Ballack.

Der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft klettert jetzt nicht nur auf die Kommandobrücke, er steigt auch hinab in den Maschinenraum und legt die Kohlen nach. Drecksarbeit - aber wertvoll.
Seitdem der Chefspieler mehr Defensive propagierte, wird es prompt so gemacht. Das ist die deutsche Lebensversicherung, mit einem hohen Selbstbeteiligungsanteil von Ballack. »Er schleppt die Bälle ab«, sagt Verteidiger Per Mertesacker anerkennend über Ballacks Bienenfleiß.
Bundestrainer Jürgen Klinsmann spricht sogar von »läuferischer Aufopferung« und lobt sein Gespür für den Augenblick: »Michael hat den Moment ergriffen, um zu führen.«
Auch beim FC Bayern reiben sie sich verwundert die Augen, weil sich die Fußball-Bosse in München noch ziemlich genau daran erinnern, dass ihr leitender Rasenangestellter sie oft enttäuscht hat. »Gut wie noch nie«, rühmt ihn nun auch Karl-Heinz Rummenigge, nicht immer erklärter Freund Ballacks.
Der hat Worten Taten folgen lassen, weil er nichts verlangen konnte, ohne zu geben. Der Kapitän fand immer schon, dass auf seinem Boot etwas viel Jupeidi-Jupeida stattfand.
1:4 in Italien, 0:2-Rückstand gegen Japan, zwei Gegentore auch beim WM-Auftakt gegen Costa Rica - es hatten sich Zwischenfälle angehäuft, die seinen Zorn erregten. Darum ergriff er das Wort. Alle mal herhören, hier spricht der Kapitän: »So können wir nicht weiterspielen.« Schluss mit dem Hurra-Stil.
Ballack trat allerdings nicht nur als erregter Verfechter für taktische Korrekturen auf, sondern auch als beleidigte Leberwurst. Klinsmann »klaute« ihm das erste WM-Spiel, dieses Vorkommnis geht unter dem Stichwort »keine Gnade - harte Wade« in die Geschichte ein.
»Machtkampf« stand auf den Leuchtreklamen der Boulevard-Theater. Der Projektleiter und seine Lenkfigur - zwei wie Katz und Hund?
Vielleicht bewegten sie sich tatsächlich auf Crashkurs - zur Kollision kam es nicht. Jetzt bildet Deutschland die große Koalition. Bundestrainer, Kapitän und Mannschaft haben Einigkeit erzielt, wie am besten zu verteidigen ist. Die schwierigen Verhandlungen darüber bedeuteten auch: Den alten Ballack gibt es nicht mehr, es lebe der neue.
Und nachdem er sein Einsatzgebiet häufiger bis an die eigenen Abwehrlinien verlegte, steht die Elf wie eine Eins und die Null schon seit drei Spielen. Das ist ein fast schon nicht mehr für möglich gehaltener Rekord in der Klinsmann-Ära. Weit vorn wurde Ballack bei dieser WM eher selten gesichtet.
Ein Turnier-Treffer 2006 fehlt ihm noch, obwohl er den Strafraum natürlich nicht zum Sperrgebiet erklärte. »Wir hoffen, dass er sich einiges aufgespart hat«, sagt Klinsmann. Im Sinne der großen Sache hielt sich sein Anführer bisher zurück und verschrieb sich der Feldarbeit. »Vorspielen« muss er ja auch nicht bei dieser Weltmeisterschaft, der Star-Status steht, untermauert mit einem netten Vier-Jahres-Vertrag beim FC Chelsea in London.
Deswegen dürfte der Frontmann auch einigermaßen damit klar kommen, das Spiel aus der Grauzone heraus zu organisieren. Ballack wusste sowieso, dass er aus dieser Nummer nicht mehr heraus konnte, seit er die offensive Ausrichtung als viel zu verwegen maßregelte: »Als älterer Spieler, der die Verantwortung trägt, sieht man natürlich, dass das Spiel kippt, wenn man die Balance verliert.«
Ballack hat die Balance gefunden. Damit soll morgen das Gewicht zu Gunsten der deutschen Mannschaft ausschlagen.

Artikel vom 29.06.2006