28.06.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Ein Schütze in Angst

Elf Elfmeter-Fakten: 93 Prozent - die deutsche Quote ist beeindruckend

Von Elmar Neumann
Bielefeld (WB). Ein Fußballtor ist 7,32 Meter breit und 2,44 Meter hoch. Das entspricht einer Fläche von fast 18 Quadratmetern und bietet genügend Platz, um das Spielgerät aus elf Metern in diesem Geviert unterzubringen. So viel zur Theorie. Ein starker Torwart und schwache Nerven jedoch nehmen diesen Daten in der Praxis jede Wirkung, wie die Schweiz und die Ukraine unter Beweis stellten. Der Schuss vom Punkt hat seine eigenen Gesetze. Das belegen die Elfmeter-Fakten.


1. Die GeschichteEin Elfmeter wurde erstmals 1891 in Irland ausgeführt, um ein unfaires Vorgehen zu bestrafen. Seit der WM 1970 in Mexiko werden die K.o.-Spiele bei Welt- und Europameisterschaften in letzter Konsequenz am Punkt entschieden.

2. Der 10,97-MeterGenau genommen, ist der Elfmeter ein 10,97-Meter. Offiziell sind es 12 Yards (10,97 m), die zwischen Torlinie und Punkt liegen sollten.

3. Die bittere WahrheitOb Jens Lehmann oder Oliver Kahn - egal, welcher Torhüter zwischen den Pfosten steht: Wenn der Elfer platziert geschossen wird und sich mit der idealen Geschwindigkeit von 90 bis 100 km/h in Richtung Längsecke aufmacht, ist er unhaltbar, wie das Institut für Mathematik der Uni Erlangen-Nürnberg errechnete. Der Ball ist nur etwa eine halbe Sekunde unterwegs, die Reaktionszeit des Torwarts beträgt mindestens eine Viertelsekunde. Daraus ergibt sich, dass der Keeper aus dem Stand mit 35 km/h durch die Luft fliegen müsste, um den Ball abzuwehren. Das ist das Höchsttempo eines 100 Meter-Sprinters.

4. Die einzige ChanceEin Schütze kann das Tor verfehlen, Latte oder Pfosten treffen oder dem Torwart in die Arme schießen. In diesen Fällen ist der Keeper fein raus. Zieht sein Gegenüber platziert ab, hat der Schlussmann im Duell eins gegen eins nur eine Chance: Er muss sich vorher für eine Ecke entscheiden. Dann entfällt die Reaktionszeit - und schon reichen etwa 18 km/h, um die flinken Finger noch an den Ball zu bekommen.

5. Die ErfolgsformelZwei Mathematiker der John-Moore-Universität in Liverpool haben alle englischen Elfmeter bei großen Turnieren seit 1962 analysiert. Daraus resultierte eine einfache Erfolgsformel, mit der Kapitän Beckham & Co. ihre schwarze Serie in den Elfmeterschießen vielleicht schon im Viertelfinale gegen Portugal beenden könnten: (((X+Y+S)/2)x((T+I+2B)/4))))V(2/2)-1. Alles klar?

6. Die PsychologieAuch wenn Peter Handke einst »Die Angst des Tormanns beim Elfmeter« in Worte gefasst hat, ist die Wahrheit eine andere: »Der einzige, der etwas zu verlieren hat, ist der Schütze«, sagt nicht nur Ersatz-Titan Kahn. Die Rolle des Helden ist dem Torhüter reserviert, dem (Fehl-)Schützen bleibt nur die Rolle des Deppen. Die Stresshormone geben sich ein Stelldichein und nehmen dem Vergleich mit Trainingsstrafstößen jeden Wert. Wie dem Basketballer beim Freiwurf bleibt auch dem Fußballer nur die Möglichkeit, die große Bedeutung und alle äußeren Einflüsse auszublenden und sich allein auf die Ausführung zu konzentrieren. Einfach gesagt . . .

7. Der vierte SchützeDie meisten Trainer lassen ihre sichersten Schützen zuerst (87 Prozent Trefferquote) oder zuletzt (80 Prozent) antreten. Die Universität Groningen hat herausgefunden, dass sich der vierte Elfmeter in der Regel als Schlüsselschuss herausstellt: Nur in 73 Prozent aller untersuchten Spiele war der vierte Schütze erfolgreich.

8. RitualeOb die Länge des Anlaufs oder die Lage des Balls - viele Schützen vertrauen auf persönliche Rituale, die Torhüter allerdings auch. Unvergessen sind die Linientänze von Liverpools Jerzy Dudek, der im Champions-League-Finale 2005 die Routiniers des AC Mailand aus dem Konzept brachte.

9. BelastungsprobeDer Torwart benötigt nicht nur etwas Glück und eine überragende Reaktionsschnelligkeit, sondern auch Standfestigkeit, um einen Elfmeter zu parieren. Nach Berechnungen des Frankfurter Physikprofessors Fritz Siemsen bewegt sich die Belastung, die auf den Torwart wirkt, zwischen 80 Kilogramm (wenn er den Ball mit den Händen fängt) und 320 Kilogramm (bei einem Kopftreffer).

10. Die deutsche BilanzWenn diese Quote der Konkurrenz keine Angst einflößt, welche dann? Dreimal trat die DFB-Auswahl bei einer WM zu einem Elfmeterschießen an, und dreimal ging sie als Sieger vom Platz. Uli Stielike wurde bei der Premiere im Halbfinale der WM 1982 gegen Frankreich die zweifelhafte Ehre zuteil, als einziger deutscher Kicker nicht zu treffen - zum Finaleinzug reichte es trotzdem, weil Kaltz, Breitner, Littbarski, Rummenigge und Hrubesch die Nerven behielten. Wie alle (!) acht weiteren Schützen 1986 gegen Mexiko und 1990 gegen England. 14 Schüsse, 13 Treffer: Das ergibt eine Spitzenquote von 93 Prozent.

11. Ohne Holland . . .. . . finden Siegesfeiern nach Elfmeterschießen statt. Die Holländer verwandelten in ihrer WM- und EM-Geschichte nur acht von 24 Elfmetern. Eine Sieg in fünf Spielen - mehr war angesichts dieser peinlichen Ausbeute nicht drin.

Artikel vom 28.06.2006