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Tatarische Waldsteppe
ist Keimzelle Bulgariens
Mit dem Forum »Russische Kultur« unterwegs an der Wolga
Majestätisch fließt die Wolga durch die tatarische Waldsteppe. Vom Steilufer hinter der Mühle von Petschischi schweift der Blick über den Strom zu den Türmen des Kremls von Kasan, zu riesigen Industriekomplexen. Und immer wieder weiße Birken...
Weil die großen Reiseveranstalter die Republik Tatarstan noch recht stiefmütterlich behandeln, sind interessierte Touristen derzeit weitgehend auf Nischenanbieter wie das Forum »Russische Kultur« aus Gütersloh angewiesen. Keine schlechte Alternative übrigens, denn was Organisator Franz Kiesl und seine Truppe auf die Beine stellen, sind echte Kulturschmankerl -Êund stets steht die Begegnung mit den Menschen vor Ort im Mittelpunkt.
So geht es mit dem Ausflugsboot vom Kasaner Hafen aus über die Wolga hinaus in eine richtige Idylle. Neben Sonnenanbetern am Ufer grasen friedlich einige Kühe. Obwohl eine Babuschka den Besuchern aus Deutschland Kwas, ein erfrischendes Getränk aus vergorenem Brot, probieren lässt, ist ein Besuch im einzigen Geschäft von Petschischi unerlässlich, wo man sich mit Mineralwasser, getrocknetem Fisch und Keksen eindeckt. Die Verkäuferin hat in ihrem Laden noch nie Ausländer als Kunden gehabt und schämt sich ein wenig, weil sie noch mit dem Abakus rechnet.
Zwei wohlgenährte Dorfhunde verfolgen das Picknick der Reisegruppe aus Ostwestfalen am Rande eines Birkenwaldes mit gleichmütiger Langeweile. Auch die Kinder sind nicht sonderlich beeindruckt. Was sind schon ein paar Fremde, wenn für einige Wochen die Sonne so warm scheint, dass man in der Wolga baden kann!
Ein Frachter zieht gemächlich stromaufwärts, ein Flusskreuzer hingegen macht einen Schlenker zum gegenüberliegenden Ufer, wo ein skurriler Kauz seit Jahren an einem »Haus der Weltreligionen« baut. Irgendwie sieht es aus, als ob Friedensreich Hundertwasser sich einer russisch-orthodoxen Kirche angenommen hätte.
Ein kurzes Stück entfernt, an der Landstraße von Kasan ins 800 Kilometer entfernte Moskau, steht das Haus von Nikolai Wilkow. 15 Jahre hat er damit zugebracht, die tatarische Schnitzkunst für die stilechte Außen-Dekoration in mühevoller Handarbeit herzustellen. Heute ist sein Anwesen ein viel fotografiertes Schmuckstück. Auch das Fernsehen hat es schon als Kulisse genutzt. Selten, so erzählt Nikolais Enkel, halte auch mal ein Bus mit Touristen an.
Im benachbarten Selenodolsk ist die Gruppe aus Ostwestfalen zum »Fest des Pfluges« eingeladen. Die ganze Stadt ist auf den Beinen und zieht in ein weites Tal am Rand der hässlichen Plattenbausiedlung. Die Abhänge dienen als Tribüne, von der aus man artistische Flugvorführungen und tatarischen Ringkampf, Balanceakte auf dünnen, schwankenden Baumstämmen und Gesangsdarbietungen erleben kann. Viele alte Leute tragen noch die Tracht der Region, die jüngeren legen sie nur für die Volkstänze an. Hier sind ausländische Besucher wirklich Exoten -Êund werden überall zu tatarischen Spezialitäten und Tee eingeladen. Die sprichwörtliche russische Gastfreundschaft scheint keine Grenzen zu kennen.
Entlang an Wolga und Kama kommt man zu einem hochinteressanten Ausgrabungsgebiet. Archäologische Funde belegen, dass an der Wolga seit Urzeiten Menschen siedelten. Sehenswert sind die Überreste einer Residenz- und Handelsstadt in der Nähe von Bolgar.
Der Ort steht innerhalb der noch großenteils erhaltenen Walllinien der berühmten alten Wolgabulgaren-Residenz, von welcher noch Türme und Mauertrümmer übrig sind.
Es finden sich auch noch eine Menge Grabsteine, mit tatarischen, arabischen und armenischen Inschriften, und mit Bildwerken bedeckt, alte Waffen, Münzen und Gerätschaften aller Art.
Das Reich der Wolgabulgaren kristallisierte sich im 7. bis 10. Jahrhundert im Bereich von Wolga und Kama heraus und existierte bis zum 13. Jahrhundert. Aufgrund der Annahme des Islam entwickelte sich Wolgabulgarien innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer Handelsmacht und vermittelte über die Faktoreien islamischer Kaufleute an der Wolga den Fernhandel zwischen der Kiewer Rus und den islamischen Ländern im Süden.
Das Bulgarenreich ging im Mongolensturm zugrunde. Es gilt aber als Keimzelle des heutigen Bulgariens. Sein kulturelles Erbe setzte sich im Kasaner Khanat fort. Neben dem kleinen Museum von Bolgar sollte man daher auch unbedingt das Nationalmuseum der Republik Tatarstan in Kasan besuchen.
Thomas Albertsen05241 / 59577www.forum-russische-kultur.de
http://members.tripod.com/~Groznijat/fadlan/rorlich2.html

Artikel vom 01.07.2006