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Immer auf die armen Stiefmütter

Psychologen und DFB-Präsident stellen sich schützend vor Schiedsrichter

Heidelberg (dpa). Der Sportpsychologe Henning Plessner hat den FIFA-Präsidenten Joseph Blatter für dessen Schiedsrichter-Schelte bei der WM scharf kritisiert.

»Das kann man nicht ernst nehmen. Es ist unverschämt, Blatter hat doch bei der FIFA nichts für die Schiedsrichter getan«, sagte der an der Universität Heidelberg tätige Sportpsychologe. Das Problem sei, dass beim Weltfußballverband zu geringe finanzielle Mittel in die Aus- und Weiterbildung der Unparteiischen flössen. »Die werden stiefmütterlich behandelt, wenn man sieht, wie viel Geld sonst in der WM steckt.«
Zudem habe die FIFA vor der Endrunde die Regeln verschärft, ohne dies vorher zu prüfen. »Wenn die FIFA Änderungen im Regelwerk macht, sollte sie die auch genau evaluieren. Das ist aber nicht der Fall.« Sein Institut arbeite für den Deutschen Fußball-Bund (DFB) an einem videobasierten Entscheidungstraining für Referees, in dem reale Situationen nachgestellt werden. »Aber die FIFA ist gegen Beratung immun. Es fehlt nicht an Wissen, sondern am Willen, Verbesserungen durchzusetzen«, sagte Plessner.
Außerdem achte die FIFA bei der WM zu sehr auf Länderproporz. »Es werden nicht die allerbesten Schiedsrichter ausgewählt, sondern es wird auf die Länderanteile geschaut. Da sind dann auch weniger professionelle Schiedsrichter dabei«, sagte Plessner. Statt die besten Unparteiischen aus der Champions League pfeifen zu lassen, achte man darauf, nicht zu viele Unparteiische aus Europa einzusetzen. »Die sind aber besser geschult und trainiert.«
Die Entscheidung des Spaniers Luis Medina Cantalejo zum Elfmeter im Spiel Italien gegen Australien am Montag sei der typische Fall einer Konzessionsentscheidung gewesen. »Der hat wegen der roten Karte gegen Italien unterbewusst ein schlechtes Gewissen durch die Partie geschleppt und dann den Strafstoß gegeben«, sagte Plessner zum umstrittenen Foulelfmeter in der dritten Minute der Nachspielzeit, den Francesco Totti zum 1:0-Achtelfinalsieg über Australien nutzte.
In die Kritik hat jetzt auch Franz Beckenbauer eingestimmt. »So hundertprozentig kriegen sie die Lage nicht in den Griff«, sagte der Chef des Organisationskomitees. Beckenbauer bezog sich vor allem auf den Russen Walentin Iwanow und auf den Spanier Luis Medina Cantalejo.
Lob hingegen kam von DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder. Er schob den Spielern den Schwarzen Peter zu. »Die Mannschaften haben sich nicht an die Ordnung gehalten, die der Fußball vorgibt.« Mayer-Vorfelder, auch Mitglied im FIFA- und UEFA- Exekutivkomitee, wies darauf hin, dass vor dem Turnier alle WM-Teilnehmer mit den strengeren Regelauslegungen bekannt gemacht worden waren: »Und das nicht nur im stillen Kämmerlein.«

Artikel vom 28.06.2006