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Klinsi als Motivator
nicht zu schlagen

Auch auf DFB-Spion Urs Siegenthaler ist Verlass

Von Friedrich-Wilhelm Kröger
Berlin (WB). Am Freitag will die deutsche Mannschaft gegen Argentinien das WM-Halbfinale erreichen. Zuvor gibt es einen Blick auf den Zeitvertreib der Mannschaft, hinter die Trainingskulissen, auf ihre Vorbereitung und darauf, wie sie spielen wird.

FREIZEITWeil fünf spielfreie Tage zu überbrücken sind, gab Jürgen Klinsmann seiner Mannschaft am Sonntag nach dem Mittagessen frei. Gestern Abend mussten die Spieler bis spätestens 20 Uhr wieder zurück sein. Sie durften machen, was sie wollten. Es war wie immer. Einige blieben, andere reisten in ihre Heimatorte.
Als Aufpasser begreift sich der Bundestrainer nicht: »Alle wissen, warum wir hier sind, und sind sehr auf das Ziel fixiert. Es gibt bei uns keinen Spieler, der nachts um drei die Disco besucht.«
Das stimmt. Bei Bastian Schweinsteiger war es halb fünf. Getarnt mit Schiebermütze und einem Drink in der Hand wurde er im »90 Grad« gesichtet, einem Szeneclub. Kein Problem. Es war freier Ausgang.

TRAININGDafür wird heute gleich zweimal geschwitzt. Eine Doppeleinheit legen während des Turniers nicht mehr viele Teams ein. Klinsmann will aber die Belastung wieder hochfahren, ersten Druck entfachen und im Hinblick auf das Argentinien-Spiel neue Spannung erzeugen.
Für die Medien ist das Training nur offen, wenn die Deutschen nichts zu verbergen haben. Ihre Taktikschulung machen sie gern unter Ausschluss der Öffentlichkeit. So halten sie es auch mit den Standards. Manchmal ist ihre Übungsstunde auch nur eine Viertelstunde lang zugänglich. Wenigstens die Fotografen bekommen so frische Bilder. Zaungäste haben keine Chance. Sichtwände und Sperren umgeben die Übungsstätte, Herthas Amateurstadion.

SYSTEMDeutschland ist jetzt eingefuchst auf ein 4-4-2. Zwei variable Viererketten in Abwehr und Mittelfeld plus zwei Spitzen: Das lief zuletzt immer besser, so spielt die Mannschaft am liebsten. Wichtig ist, dass Metzelder und Mertesacker als Innenverteidiger penibel darauf achten, versetzt zu stehen. So kann der eine den anderen absichern. Es erschwert auch die gefürchteten Pässe in einen unbeschatteten Raum.
»Jeder spielt in seinem Verein die Viererkette anders. Wir mussten uns erst aneinander gewöhnen. Inzwischen haben wir eine Regelung, die funktioniert«, sagt Metzelder. Klinsmann mag einen Abwehrchef in ihm sehen, der Dortmunder selbst aber findet, »dass wir den nicht brauchen. Jeder muss Kommandos geben.«
Bei den Außenverteidigern ist Lahm links oft offensiver ausgerichtet als sein Pendant auf der rechten Seite. Arne Friedrichs Vorstöße sind seltener, vor allem Flanken wollen ihm kaum gelingen. Im Mittelfeld hat Michael Ballack Torsten Frings damit beauftragt, die Spielsituation abzuwägen. Der Bremer darf den Kapitän ausdrücklich dazu auffordern, sich defensiv zu orientieren, er kann ihn auch von der Leine lassen - eine Sache der Absprache.
Auch gegen Schweden war zu beobachten, dass Ballack hinten viele Bälle selbst abholte, dafür aber natürlich nicht so häufig vor dem Tor auftauchte. Statt dessen versuchte er es oft aus der Distanz. Neun Schüsse wurden gezählt.

PERSONALDie Deutschen schicken seit Beginn fast ausnahmslos die selbe Elf auf den Platz und brechen bisher das ungeschriebene Gesetz, wonach sich Mannschaften immer erst im Turnier finden. Bisher änderte Klinsmann die Startformation nur auf zwei Positionen - und auch das geschah nur aus Vorsorge.
Zum Auftakt gegen Costa Rica ersetzte Borowski den verletzten Ballack. Gegen Ecuador kam Huth für den ebenso angeschlagenen wie gelbgefährdeten Metzelder. Ansonsten hält es der Bundestrainer bisher eisern mit der Regel: Ändere nie ein siegreiches Team.

RESERVISTENSie bekommen Komplimente von allen Seiten, zuletzt von Teammanager Oliver Bierhoff: »Wer sieht, wie sie sich bei unseren Siegen mitfreuen, sieht auch, dass wir alle eine Mannschaft bilden.« Gejubelt wird grundsätzlich nicht nur auf dem Rasen, sondern auch am Rand. Ein Sonderfall ist Oliver Kahn: Intern besonders von den jüngeren Spielern als höhere Instanz angesehen, macht der Torhüter nach außen gern böse Miene zum bösen Spiel. Die Nummer 2, die die Nummer 1 sein wollte, hat das griesgrämigste WM-Gesicht von allen.

VERWARNUNGENNach der Vorrunde wurde die Amnestie ausgerufen, im Achtelfinale beginnen alle wieder bei null. Nach der zweiten gelben Pappe heißt es: einmal aussetzen. Das könnte dem gegen Schweden vorbestraften Torsten Frings passieren.

SPIONUrs Siegenthaler weiß alles. Und wenn er von Argentinien noch nicht alles weiß, dann wird er es rechtzeitig wissen. Der Spion, der aus der Schweiz kam, ist unersetzlich; er sieht die Auftritte der Gegner oft live. Siegenthaler gilt als fähiger Analyst, zerpflückt jeden. Zu Argentiniens Mangelerscheinungen, wenn es sie gäbe, würde er sich nicht äußern. »Das hat mir der Bundestrainer verboten.«
Der Eidgenosse stellt auch Material aus dem eigenen Lager auf DVD zusammen. Gilt es interne Schwierigkeiten anzupacken, etwa Abstimmungsprobleme der Abwehr, dann kann eine Videoschicht auch ausufern. Das passierte zum Beispiel, um die Viererkette besser zu verknüpfen. »Die Sitzung war ungewohnt lang«, bestätigte Metzelder. Jeder Mannschaftsteil bekommt vor den Spielen seine eigene Unterweisung. Joachim Löw, Klinsmanns Bereichsleiter Taktik, ist stets dabei.

MOTIVATIONEindeutig Klinsmanns Gebiet. Da ist er unschlagbar, sagen die Spieler. Der Bundestrainer achtet vor allem darauf, dass sich niemand zurücklehnt und glaubt, einen Erfolg feiern zu müssen, den es noch gar nicht gibt. Zufriedenheit ist aller Niederlagen Anfang. Und Klinsmann kann überhaupt nicht gut verlieren. Das hat ihn schon
als Spieler genervt.

Artikel vom 27.06.2006