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Astronaut aus Überzeugung
Thomas Reiter und der Traum der Menschen, in nicht allzu ferner Zukunft auf dem Mars zu stehen
Geht jetzt endlich alles glatt, hebt der gebürtige Frankfurter an diesem Samstagabend um 21.48 Uhr deutscher Zeit in Cape Canaveral, Florida, Richtung Internationale Raumstation ISS ab. Endlich! Schließlich begann sein Training für die Mission bereits vor fünf Jahren. Doch der »Columbia«-Albtraum vom 1. Februar 2003 und die daraus entstandenen Verzögerungen im NASA-Programm stellten den gelernten Jet-Piloten und studierten Raumfahrt-Ingenieur der Bundeswehr auf eine harte Geduldsprobe. Viermal wurde in der Folge sein Start verschoben.
Niemals freilich ließ ihn das Desaster, das die siebenköpfige Besatzung beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre das Leben kostete, an seinem Job zweifeln. »Wir Astronauten sind bereit, ein höheres Risiko einzugehen«, sagt Reiter. Und er weiß, dass Tausende Menschen am Boden ihr Bestes geben, ihn und die anderen sicher rauf und wieder runter zu bringen. »Die Shuttles waren noch nie so sicher wie heute.« So nahm er auch die jüngste Ankündigung der NASA-Sicherheitsingenieure professionell. Es sei nicht auszuschließen, sagten die, dass auch bei diesem Start wieder Schaumstoff von den Zusatztanks der Raumfähre abplatzen wird. »Es gibt im All Reparaturmöglichkeiten für die Kacheln des Hitzeschutzschildes«, sagt Thomas Reiter - kein Grund, sich Sorgen zu machen.
Zur Erinnerung: Abgefallene Schaumstoff-Stücke, die beim Start den Hitzeschutzschild beschädigten, hatten die »Columbia«-Katastrophe heraufbeschworen. Und auch am 26. Juli 2005, beim ersten Start der »Discovery« nach dem Raumfahrt-GAU, war das Problem trotz allen Experimentierens und Verbesserns wieder präsent. Im All musste die Besatzung den Bauch des Raumschiff-Veteranen vor dem Rückflug von der ISS am 9. August flicken. Der sieht nach 31 Starts ins All, 160 Millionen Kilometern durch den Raum und 22 Dienstjahren durch die Zeit längst schon aus wie ein Fleckerlteppich. Doch einen Testflieger-Haudegen wie Reiter kann das nicht aus der Ruhe bringen. Notlagen im Weltraum zu meistern sei »tägliches Brot«.
Das hat der Luftwaffen-Oberst, der (wenn er nicht, wie eigentlich immer in den vergangenen Jahren, sein Training in Köln, den USA oder Russland absolviert) mit Frau Consuela und den beiden Söhnen Daniel (14) und Sebastian (9) in Oldenburg lebt, schon früher bewiesen. Von September 1995 bis Februar 1996 zählte der Hesse mit norddeutscher Bundeswehr-Heimat auf der Mutter aller Raumstationen, der russischen »Mir«, zur Langzeitbesatzung.
Damals gab's ein Leck im Lebenserhaltungssystem - die Luft wurde dünner. Die drei »Mir«-Männer im All hätten mit der Notfall-»Sojus«-Rakete heimfliegen können. Taten sie aber nicht. Als Elektriker, Schlosser und Klempner, jeder von ihnen in einer Person, sorgten sie dafür, dass der knirschende Weltraum-Oldie aus Sowjet-Zeiten bewohnbar blieb.
Sechs bis sieben Monate wird Reiter nun auf der »Mir«-Nachfolgerin ISS (International Space Station) leben, arbeiten, forschen - erneut ein gutes halbes Jahr. Wenn er danach im Dezember oder Januar heimkehrt auf unseren schönen Planeten, wird er sich zunächst kaum auf den von der langen Schwerelosigkeit entkräfteten Beinen halten können, Gleichgewichtsprobleme haben und insgesamt »so richtig fertig« sein. Aber er wird mit »überirdischen« Eindrücken heimkehren, wie sie bisher lediglich neun weitere Deutsche als Raumfahrer erlebten.
Und er wird dann auch jener Astronaut der Europäischen Weltraumorganisation ESA mit der bei weitem längsten Aufenthaltszeit im All sein. 209 Tage hat der Franzose Jean-Pierre Haigneré (58) in der Erdumlaufbahn verbracht - Reiter blickt bereits jetzt auf die Erfahrung von 179 »Mir«-Tagen zurück. Und nun kommt noch einmal mindestens die gleiche Zeit hinzu. Zum Vergleich: Eine Mars-Mission im Jahr 2030 wird derzeit auf drei Jahre am Stück geschätzt. Die ISS könnte das Sprungbrett dorthin sein.
Doch zurück ins Jetzt: Erstmals seit 2003 wird die ISS wieder mit drei Mann besetzt sein - neben Reiter sind das der russische Kommandant Pawel Winogradow und der US-Flugingenieur Jeffrey Williams. Höchste Zeit, denn wegen der Verzögerungen nach »Columbia« geriet natürlich auch der Ausbau der Weltraumstation ins Stocken. Die Zweier-Teams konnten jeweils nur das Funktionieren der Einheit in der Schwerelosigkeit gewährleisten - an wissenschaftliche Arbeit nicht zu denken. Außerdem stockte mit dem Ausfall vieler US-Raumfährenflüge natürlich auch der Materialfluss. Die russischen »Progess«-Raumtransporter allein konnten das unmöglich ausgleichen.
Thomas Reiter soll nun dafür sorgen, dass auch die »Abteilung Forschung« - und dies ist der eigentliche Zweck der ISS - in den Tritt kommt. 160 Stunden seines Aufenthaltes in der Orbitalstation, die in 350 bis 400 Kilometern Höhe um die Erdkugel rast, sind dafür vorgesehen.
Aber auch ins Normalprogramm bindet ihn der werktäglich von sieben bis 22 Uhr eng gestrickte Dienstplan ein. Zudem wird der 48-Jährige der erste ESA-Mann sein, der »aussteigt«: Sechs Stunden Außenarbeiten bei »Tempo 29 000« - vier Erdumrundungen à 90 Minuten inklusive. Für den Deutschen ein Traum: »Jeder Astronaut wünscht sich, einen solchen Einsatz absolvieren zu dürfen.«
Doch er weiß natürlich auch, dass seine Mission und dieser Flug der »Discovery« unter besonderem Erfolgsdruck stehen. Gibt's Pannen, in deren Folge die USA die Shuttle-Flüge erneut auf Eis legen, kann der Zeitplan des Komplettausbaus der ISS bis 2010 kaum mehr eingehalten werden. Die altersschwachen Raumfähren werden dann ausgemustert - Nachfolger sind nicht in Sicht.
450 Tonnen Masse soll die Station den Plänen nach im Endausbau haben - mit 108 Metern Spannweite, 74 Metern Länge und 88 Metern Tiefe ein hübscher Klotz im All. Doch bisher sind nicht einmal 200 Tonnen oben. Gerade für die Europäer sind Shuttle-Starts, einer nach dem anderen, jetzt wichtig. Denn am Boden wartet ihr Prunkstück, das in Bremen gebaute »Columbus«-Labor, das im September 2007 endlich an die ISS angeflanscht werden soll. Das war eigentlich für 2004 geplant - mit Reiter. Ohne US-Shuttle-Transport wäre »Columbus« nur noch gut fürs Museum - Milliarden in den Sand gesetzt. Doch für dergleichen Abgesänge besteht bislang keinerlei Grund, glaubt Thomas Reiter, der natürlich - wie alle Astronauten - positiv denkt. Das ist sozusagen Einstellungsvoraussetzung.
Wie steht er zur Kritik vieler Menschen, die meinen, man sollte erst einmal den Hunger und das Elend auf Erden bekämpfen, bevor man Unsummen im luftleeren Raum »verbrät«? Die nach dem Gemeinnutzen der Weltraumforschung fragen?
Reiter antwortet mit Gegenfragen: »Welchen Nutzen hat ein Theaterbesuch? Was bringt es für einen Nutzen, wenn wir in die Kirche gehen? Es ist einfach ein Bestandteil unserer Kultur. Es ist eine menschliche Eigenschaft, Antworten auf Fragen zu suchen und zu schauen, was liegt hinter dem Horizont.«
Nicht anders hätten es die alten Entdecker gemacht. »Nicht alle kamen zurück und hatten etwas vorzuweisen. Aber was wir heute sind beruht darauf, dass Menschen geforscht und Expeditionen gemacht haben.« Ingo Steinsdörfer

Artikel vom 01.07.2006