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Vom hohen Olympherab auf die Tribüne

Diego Armando Maradona tritt im Stadion als Maskottchen auf

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Am 30. September 1960 ahnte die Welt nicht, dass ihr soeben ein neuer Fußballstar geboren war. Als das Jahr 1991 anbrach, nannten nur wenige die Kickerlegende und Kokain in einem Satz. Heute allerdings steht aller Welt klar vor Augen, was aus Diego Armando Maradona geworden ist: ein exaltiertes Team-Maskottchen.

Natürlich werden die Sterndeuter nicht müde zu betonen, im blau-weißen Kostüm des über die Tribüne turnenden Streifenhörnchens verberge sich ein echtes Schlitzohr: Maradona, so ihr Kalkül, mache sich bei Argentiniens Elf lieb Kind und dränge José Pekerman aus dem Traineramt, um Riquelme & Co. herrlichen Zeiten entgegenzuführen.
Das Angebot allerdings, Pekerman zu assistieren, hat der »D10S«, der Gott (dios) mit der Trikotnummer 10, abgelehnt. Wem sogar eine eigene Kirche geweiht ist (die Iglesia Maradoniana in Rosario), der legt seine segnende Hand auf die Mannschaft, aber pumpt ihr nicht den Ball auf. Und wieder bleibt nur das (gnadenlose) Fernsehbild vom singenden, springenden Trikotschwenker in Block H, Reihe 27, Platz 34.
Maradona wuchs mit acht Geschwistern in Villa Fiorito auf, einer Armensiedlung vor den Toren von Buenos Aires. Sein Vater mag kommende Größe leise erahnt haben, als er den Neunjährigen mit dem ersten Fußball beseligt lächelnd zu Bett gehen sah. Tatsächlich blieb Klein-Diegos Team in 136 Spielen ungeschlagen, und damals bereits prägten die schwer beeindruckten Kameraden das Wort vom »pibe de oro«, vom Goldjungen.
Von nun an reihte sich Erfolg an Erfolg. Mit 16 Erstligaprofi, vier Monate später Debüt in der Nationalelf. Zu jung zwar für die WM 1978, aber im Jahr darauf Weltmeister mit Argentiniens Jugend.
In der Folge regneten die Titel auf den Goldjungen herab - keine Trophäe, die Maradona nicht gewonnen hat. Okay: 1982 flog er nach einer roten Karte aus dem WM-Turnier. Aber 1986! Da durfte der Wunderknabe im schwarzlockigen Haar unwidersprochen ein Tor in Handballermanier erzielen. Da mimten Englands in Ehrfurcht erstarrte Elitekicker Slalomstangen, durch die der kleine Argentinier zum 2:0 wedelte. Und mochte Toni Schumacher nach eigenem Bekunden im Endspiel auch gehalten haben »wie ein Arsch«, so gebührte wohl doch der von Maradona geführten Argentinien-Elf der finale Sieg.
»Ich danke Gott, dass Maradona ein Argentinier ist«, sagte Nationaltrainer Carlos Bilardo nach dem Titelgewinn. Vier Jahre später war die Luft raus. »Du schon wieder«, knurrte im Finale der Heros seinen Gegenspieler an, der schier übermächtig schien, obwohl seine Art, Fußball zu spielen, ein Fall für das Technische Hilfswerk war: Guido »Diego« Buchwald.
So hoch der Aufstieg, so tief der Fall. 1994 Turnierverweis nach positivem Dopingbefund. Drogensucht, Herzrhythmusstörungen, Wettschulden, ein Strafregister länger als sein Unterarm, Bulimie, Fettsucht, Umgang mit der Camorra. Der Star, der einst jedes Team im Alleingang bezwungen hatte, scheiterte an sich selbst.
Das Idol trat auf als Kind, das Kritik nicht ertrug. Der Regisseur auf dem Rasen schnupfte Kokain, um die innere Leere zu füllen und das Rampenlicht erneut zu entzünden, obwohl das Spiel längst abgepfiffen war. In den 90ern wurde offenbar, dass der rauschgiftbasierte Abstieg bereits 1982 begonnen hatte. 1995 ein Geständnis: »Ich war, bin und werde immer drogenabhängig sein.«
Maradona, im Leben Rockstars wie Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison nicht unähnlich, trat in einer Zeit gegen das Leder, als der Fußball noch nach den Gesetzen der Unterhaltungsindustrie funktionierte. Steig auf und verglühe! Heute gehorcht der internationale Sport den seelenlosen Paragraphen der Industrie. Vorbild Tennis: Als es John McEnroe los war, disziplinierte es Andre Agassi, und jetzt läuft alles rund. Unspektakulär, aber perfekt zu vermarkten. Beispiel Fußball: Ronaldinho, der neue Gott, ist sauber. Clean in mehr als nur einer Bedeutung. Gut zu gebrauchen, leicht zu entsorgen.
Was sagt uns das? Frankreichs Kicker Eric Cantona glaubt, dass der »pibe de oro« im Fußball das bedeute, was Rimbaud für die Dichtkunst und Mozart für die Musik war. Mag sein. Wer jedoch genau hinsieht in diesen Tagen, da ein blau-weiß Gestreifter durch die WM-Stadien irrlichtert, fühlt sich eher an Klaus Kinskis Rolle im deutschen Film erinnert.

Artikel vom 27.06.2006