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Pflegeeltern müssen
Kind wieder abgeben

Jugendamt ändert nach zwei Jahren seine Meinung

Von Christian Althoff
Lemgo (WB). Ein dickes Album mit Fotos eines fröhlichen Jungen und eine Menge Erinnerungen - das ist alles, was Marlies (48) und Reiner L. (57) geblieben ist. Beinahe zwei Jahre hatten sich die beiden um den kleinen Robin gekümmert - bis ihnen das Pflegekind wieder weggenommen wurde. »Das war, als hätte jemand mit einem Knüppel in unsere kleine Familie geschlagen«, sagt Reiner L.
Im Spanienurlaub machten die Pflegeeltern aus Lemgo dieses Foto von Robin.

Polizisten hatten das Jugendamt einer niedersächsischen Stadt im Jahr 2000 auf den damals zwei Jahre alten, verwahrlosten Jungen aufmerksam gemacht. Der Vater des Kindes saß in Haft, die drogensüchtige Mutter war abgetaucht und hatte das Kleinkind bei ihren Eltern zurückgelassen.
Das Jugendamt brachte Robin zunächst in einem Detmolder Kinderheim unter. Marlies L.: »Der Junge kam dort unterernährt an. Er trank Wasser aus Pfützen, aß Sand und wusste mit einer Badewanne nichts anzufangen.« Ein Arzt stellte fest, dass der Zweijährige den Entwicklungsstand eines Einjährigen hatte. Sechs Monate lebte Robin in dem Heim, dessen Mitarbeiter immer wieder vergeblich versucht hatten, Kontakt zu der Mutter aufzunehmen.
Am 1. September 2001 zog der Junge als Pflegekind nach Lemgo ins Haus von Reiner und Marlies L., deren Ehe ungewollt kinderlos geblieben war. Der Ingenieur: »Wir hatten dem Jugendamt gesagt, dass wir Robin nur aufnehmen werden, wenn er für immer bei uns bleiben kann. Ein Mitarbeiter versicherte uns, dass angesichts der Lebensumstände der Mutter die entsprechende Sorgerechtsentscheidung des Amtsgerichtes nur eine Formsache sei und wir sicher sein könnten, das Kind zu behalten.«
Es kam dem Jungen zugute, dass Marlies L. von Beruf Heilpädagogin ist, denn das Kind musste gefördert werden: »Als Robin bei uns ankam, konnte er nur ganz wenige Wörter sprechen. Er hatte eine geradezu panische Angst, nicht genug zu essen zu bekommen, und kannte keine Bindung. Er nannte alle Erwachsenen Mama und Papa.«
Mit viel Zeit und Liebe, wie ihm später bescheinigt werden sollte, kümmerte sich das Ehepaar um das Kind. »Der Junge entwickelte sich prächtig«, sagt Reiner L. und strahlt, als er sich an Robin erinnert: »Er war unheimlich wissbegierig. Er wollte die Welt entdecken und freute sich, wenn er mit unserem Nachbarjungen spielen konnte.«
Robin sei ihnen damals schnell ans Herz gewachsen, erzählen die früheren Pflegeeltern. »Deshalb haben wir immer wieder beim Jugendamt nachgefragt, wann denn endlich der Sorgerechtsprozess stattfindet. Doch man sagte uns, wir sollten Geduld haben, die Zeit arbeite für uns.«
Erst im Juni 2003, als Robin bereits 22 Monate in seinem neuen Zuhause lebte, kam es zum Anhörungstermin vor dem Familiengericht. Zum Entsetzen der Pflegeeltern machte der Vertreter des Jugendamtes in der Verhandlung eine 180-Grad-Wende und befürwortete überraschend, dass Robin zurück zu seiner leiblichen Mutter solle, die nun ebenfalls das Sorgerecht haben wollte. Rechtsanwältin Ingeborg Eisele aus Hannover, die dem Lemgoer Ehepaar beigestanden hatte: »Am Abend vor der Gerichtsverhandlung hatte die vom Gericht bestellte Gutachterin den Jugendamtsmitarbeiter fünf Stunden lang in ihrem Haus bearbeitet. Das geht aus der Rechnung der Diplompsychologin hervor.«
Die Diplom-Psychologin, die den Lemgoer Pflegeeltern gegenüber geäußert haben soll, »nur in 30 Prozent der Fälle falsch zu liegen«, war zu der Überzeugung gelangt, die leibliche Mutter könne sich gut um Robin kümmern, die Drogensucht sei nur vorübergehend gewesen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass Robin die Fortschritte, die er bei den Pflegeeltern gemacht habe, auch bei seiner Mutter gemacht hätte.
Der Richter ordnete damals an, das Kind zunächst für acht Wochen zur biologischen Mutter zu geben und es dort von der Psychologin besuchen zu lassen, bevor über das Sorgerecht entschieden werden sollte. Marlies L.: »Am 2. Oktober holten sie Robin ab. Die Mutter packte den schreienden Jungen und setzte ihn ins Auto der Psychologin. Ich sehe noch heute, wie sich das weinende Kind an die Autoscheibe presst und nach mir ruft.« Es war das letzte Mal, dass Marlies L. Robin sah. Drei Monate später sprach das Amtsgericht das Kind der Mutter zu. Der Versuch der Pflegeeltern, vor dem Oberlandesgericht zu einer anderen Entscheidung zu kommen, misslang: »Man sagte uns, dass wir als Pflegeeltern überhaupt keine Rechte hätten«, sagt Reiner L. und kämpft mit den Tränen.
Ein paar Monate später rief Robin an und fragte, ob seine früheren Pflegeeltern ihn nicht einmal besuchen könnten. Marlies L.: »Dieser Anruf hat mir einen Knoten ins Herz gemacht. Ich konnte dem Jungen nicht antworten. Ich habe mich von Robin verabschiedet und aufgelegt.«

Artikel vom 24.06.2006