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»Zorn ist ein Indiz für Leben«
Wie sich Roger Willemsen immer wieder neu erfindet und dabei seinen Leidenschaften folgt
So viel Zuspruch hatte er nicht erwartet. Auf seiner Lesereise steht Roger Willemsen bei jedem Auftritt vor ausverkauften Räumen - und das bei einem so schwierigen Thema wie Afghanistan.
Im vergangenen Jahr bereiste Willemsen jenes wüste, vom Krieg gezeichnete Land und näherte sich seiner vielschichtigen Kultur, indem er sich unentwegt wunderte. Diese Erfahrungen der Fremde hat er in seinem Buch »Afghanische Reise« verarbeitet.
Schon am Beginn der Lesungen blickt Willemsen in erwartungsvolle Gesichter und nimmt lautstarken Beifall entgegen, noch bevor er die Bühne erreicht. Es ist ihm anzumerken, dass die Sympathiebekundungen ihn zwar erfreuen, aber auch verlegen machen. Denn er behandelt sein Publikum, trotz seiner Fernsehkarriere, nicht routiniert wie ein Showmaster - er freut sich eher auf die Gespräche nach den Lesungen oder auf die vielen kleinen Reaktionen seiner Zuhörer, auf die er achtet, wenn er liest. Bei erdrückendem Applaus, dem er nichts mehr entgegnen kann, wirkt er überfordert.
Wie ein zweiter Auftritt ist es dann, wenn Willemsen beginnt zu sprechen. Wenn er will, umgarnt er sein Publikum. Willemsen kann irritieren, verführen. Wenn er formuliert, erhalten die gesprochenen Sätze zusätzliche Bedeutungen, die sein Publikum in den Bann ziehen, es faszinieren, wenn er von den archaischen Landschaften und Kulturen Afghanistans erzählt und den Menschen dort, die zaghaft wieder an den Frieden glauben.
Bei unserem Interview sitzt Willemsen mit dem Haustechniker eines Hotels im Frühstücksraum, damit beschäftigt, sein Notebook an das Hausnetzwerk anzuschließen. Es funktioniert nicht, die E-Mails gehen nicht raus. »Wenn es nicht so dringend wäreÉ«, entschuldigt sich Willemsen mehr, als dass er Ansprüche stellt. Trotzdem fordert er sie ein, bestimmt und doch aufrichtig freundlich, bis die E-Mails gesendet werden. Was für ein Mensch ist das?
Sein Auftreten mag rhetorisch und theatral kalkuliert sein, aber es verdankt sich einer schier unstillbaren, ständig beteiligten Neugier. Ob er während einer Lesung Antworten auf Zuhörerfragen sucht oder einen Kaffee bestellt, immer wendet er sich dem Geschehen zu, die Augen immer in Bewegung, jedem Lächeln, Glasklirren, Vorübergehenden sofort folgend: »Ich glaube schon, dass, wenn ich permanent versuche, Bewusstheit zu steigern, das Leben eine gewisse Kompression erfährt. Ich versuche also, genau am Ort zu sein oder exakt zu beobachten oder mir die Tatsache, was und wo ich gerade lebe, völlig bewusst zu machen. Ich habe das mal plakativ so gesagt: Wenn ich das Leben nicht verlängern kann, dann kann ich es wenigstens vertiefen.«
Es ist diese Verdichtung von Erfahrungen, die Willemsen zum Schreiben motiviert. Wenn er davon erzählt, wirkt es so, als sei er noch immer auf der Suche, noch nicht fertig, ein schreibend Werdender, der vor 20 Jahren seine Habilitationsschrift über den »Selbstmord in der Literatur« aufgab - aus dem Wunsch heraus, mehrere Texttypen schreiben zu können.
Doch literarisch tritt er erst jetzt in Erscheinung. Dabei legten seine Glossen und Essays schon früher dichterische Ambitionen nahe. Und das Schreiben eines Romans hatte Willemsen, noch bevor er zum Fernsehen kam, auf 423 Seiten ausführlich theoretisch vorbereitet (»Figuren der Willkür. Autobiographie eines Buches«, 1987).
Ob vom Moderator zum Literaten, vom Akademiker zum Talkshow-Gast, vom Jazzfreund zum Medienkritiker - unbeirrt wechselt er seine Rollen, und oft ohne Übergänge. Er plant sein Leben nicht, indem er eine folgerichtige Zukunft entwirft oder sich feste Ziele setzt. Doch wenn er sich für etwas entscheidet, ist es sein Anliegen, das er mit allen Konsequenzen vertritt. Er geht von Leidenschaft zu Leidenschaft. Mal beendet er seine Universitätslaufbahn, mal löst er sich aus sämtlichen Fernsehverträgen. So kam jetzt der plötzliche Abschied vom »Literaturclub«, den er in diesem Monat zum letzten Mal moderierte.
Besondere Leidenschaft hegt er für den Zorn, seine liebste Todsünde. Darauf angesprochen, gerät er ins Schwärmen: »Zorn ist in vielerlei Hinsicht ein Indiz dafür, dass überhaupt noch gelebt wird. Und Querulanten sind die literarischsten Individuen. Der in sich zirkulierende Hass in dem, was sie schreiben, ist ja großartig.
Da gibt es die herrlichsten Beispiele, wie: ÝWenn Sie noch einmal an mein filigranes Fahrrad gehen, trete ich Ihren perversen Opel zusammen.Ü« Kopfschüttelnd lacht Willemsen, nennt weitere Beispiele, aber fasst sich wieder. »Wenn man sich mit bestimmten Dingen nicht nichteinverstanden erklärt, dann hat man, glaube ich, keinen Verstand zu verlieren.« Es ist ihm ernst mit dem Zorn, so bei seiner Aburteilung der Guantánamo-Berichterstattung. Die von ihm vermissten Interviews mit Inhaftierten führte er selbst (»Hier spricht Guantánamo«, 2006).
Willemsen tritt nicht nur mit seinen Anliegen und Büchern auf. Erstmals macht er sich selbst zum Thema eines Abends, als entwickelte er doch einen Hang zur Selbstpräsentation. »Und Du so?« heißt sein Soloprogramm; eine Frage zurück an den Interviewer, der sein ganzes Leben fragt. »Und Du so?«, »die wohl globalste, die uninteressierteste Frage«.
Eine Frau stellte sie Willemsen einmal, nachdem sie drei Stunden lang seine Fragen beantwortet hatte. Dieses Schlüsselerlebnis der »eigenen Nichtigkeit« baut er aus zu einem selbstbezüglichen Stegreifspiel, einer augenzwinkerndern Autobiografie, einer »Kette von Vorgängen des Scheiterns«. Willemsen improvisiert über seine missglückten Erlebnisse - erfolgreich.
Lampenfieber kennt Roger Willemsen nicht mehr, weiß er doch einerseits um das Menschliche allen Scheiterns und andererseits, wofür er auf der Bühne steht. »Ich brauche meine Überzeugungen nicht vorzubereiten, ich brauche sie nur abzurufen.« Für sie ist er auch bereit, den Beifall dankbar zu ertragen. Christopher Ohms

Artikel vom 15.07.2006