23.06.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Ein Rolling Stone auf Abschiedstournee

Scheidet Mitfavorit Frankreich heute aus, wird Zinedine Zidane nie wieder Fußball spielen

Von Oliver Kreth
Hameln/Aerzen (WB). Die Equipe Tricolore und ihr Quartier passen bestens zusammen. Sowohl die französische Nationalmannschaft als auch Hameln leben von ihrer Vergangenheit - und die war wirklich sagenhaft. Doch der Glanz schimmert nur noch matt.

Die Ramschläden haben sich genauso unaufhaltsam und lange Zeit unauffällig in die Innenstadt geschlichen wie das Alter in die Knochen von Zinedine Zidane und seiner glorreichen Kollegen.
Vor allem an »Zizou« - aus dem Mund seiner Mitspieler in Madrid und der Nationalelf klingt das zärtlich »Sisu« - macht sich der Niedergang der Grande Nation auf dem Rasen fest. An jenem Mann also, der den Ball genauso beherrscht wie der Namensgeber der Unterkunft, in der der 34-Jährige während der WM wohnt. Allerdings erfand der Baron Münchhausen seine Geschichten, während die des »beurs« (so werden Kinder maghrebinischer Einwanderer, ungeliebte Abkömmlinge aus den ehemaligen Kolonien in Nordafrika, genannt) lassen sich in den Archiven nachlesen.
Im WM-Finale 1998 glänzte er, ebenso bei der EM 2000, und Madrid schoss er gegen Bayer Leverkusen 2002 zum Titelgewinn in der Champions League. In seinen fünf Jahren bei Juventus Turin verführte er Italiens alte Dame zu Siegen, aber erst bei Real lebte er auf. Denn da war er nicht der Star, auch wenn die Fans das dort ganz anders sehen.
Diese Erfolge verdankt er den Lebensmaximen im Hause Zidane: Arbeite hart, bleib' anständig, respektiere deine Mitmenschen. Diese Regeln hat er ergänzt durch: respektiere auch den Ball und deine Mitspieler. Die danken es ihm mit Bewunderung, die an Verehrung grenzt. Ball-Popstar David Beckham zum Beispiel, auf dem Feld eine Art Vorarbeiter de luxe Zidanes, himmelt ihn an wie die kleinen Jungen in seinem alten Viertel in Marseille. Ronaldo schwärmt noch heute, dass ihn Zidane überraschend besucht habe, als er nach einer Knieoperation in einer Pariser Klinik lag.
Es ist diese einmalige Mischung aus menschlicher Größe, Ballbeherrschung und Spielverständnis, die ihn lange über alle herausgehoben hat. Nicht nur in der Primera División. Dort bestritt er am 7. Mai dieses Jahres gegen den FC Sevilla sein erstes Endspiel.
Aus der Nationalmannschaft trat er 2004 schon einmal zurück: Er wollte sich nur noch um die Königlichen und um seine Familie - Zidane hat vier Kinder - kümmern. Doch der nationale Hilferuf und die Bearbeitung durch seinen Bruder zeigte Wirkung. »ZZ top« gab sein Comeback, und Frankreich schaffte es noch nach Deutschland. Aber der selbsternannte Favorit findet nicht zu seiner Form - genauso wie der dreimalige Weltfußballer.
Magische Momente blieben Fehlanzeige. Zidane dirigiert seine Mitspieler nicht mehr, führt die Mannschaft nicht durch seine intuitive, zielstrebige und kunstvolle Art. Er ist auch nicht mehr erfinderisch im Lösen einer Unterzahlsituation. Wie Zidane das gemacht hat, das konnte kaum einer vor ihm, das Drehen, die Täuschung, der Raumgewinn, das Schattenhafte, das Aufsprengen des Fußballkorsetts. Sagenhafte Vergangenheit, keine Zukunft mehr?
Der Leadsänger der kickenden »Rolling Stones« ist in Deutschland auf Abschiedstour. Und sollte Frankreich heute - Zidane ist gelbgesperrt - aus dem Turnier ausscheiden, wäre das 1:1 gegen Südkorea vom 18. Juni das letzte Spiel des Ballmagiers gewesen. Noch denkt er nicht daran und meint, dass »die Mannschaft das auch ohne mich schafft«. Wenn nicht, wäre sein Leben einfacher. Ihn würde das nicht stören. Im Gegenteil, denn »Einfachheit ist der Gipfel der Intelligenz«, sagt Zidane und lächelt - sagenhaft.

Artikel vom 23.06.2006