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Ein Haushalt mit vielen Risiken

Bundeskanzlerin Merkel: »Deutschland ist ein Sanierungsfall«

Berlin (dpa). Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) will ungeachtet der Milliardenrisiken im kommenden Jahr die Haushaltsziele der großen Koalition einhalten.

Es gebe zwar »schwere Brocken« und viele Risiken, man dürfe sich davon aber nicht erdrücken lassen, sagte Steinbrück gestern im Bundestag zum Auftakt der abschließenden Beratungen über den Bundesetat für 2006.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat angesichts der desolaten Haushaltslage Deutschland als einen »Sanierungsfall« bezeichnet. Sie habe sich lange gegen diese Bezeichnung gewehrt, doch »die Lage ist ernst«, sagte sie am Dienstag auf dem Industrietag in Berlin. An dieser Einschätzung ändere auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer nichts.
Es sei von grundlegender Bedeutung für die Bundesregierung, die Schuldenregeln der Verfassung sowie Vorgaben des EU-Stabilitätspaktes von 2007 an wieder einzuhalten, sagte Steinbrück. »Und an denen wird nicht gerüttelt.« Anders lautende Spekulationen, die Verfassungsvorgaben könnten wegen einer zu hohen Neuverschuldung erneut nicht eingehalten werden, wies er zurück. »Glauben Sie nicht Zeitungsartikeln, glauben Sie mir.«
FDP, Grüne und Linkspartei kritisierten die Haushaltspläne als Armutszeugnis und Beispiel für »Selbstgefälligkeit und Kraftlosigkeit« einer großen Koalition. Die Neuverschuldung sei auf Rekordniveau, Union und SPD setzten den Verfassungsbruch der Vorjahre fort. Nach der heutigen Generaldebatte, in der Koalition und Opposition sich traditionell einen Schlagabtausch liefern, soll der Etat 2006 am Freitag endgültig verabschiedet werden. Er tritt dann mit sechsmonatiger Verspätung in Kraft. Der Etatentwurf für 2007 soll dann am 5. oder 12. Juli im Bundeskabinett beschlossen werden.
Für 2006 sieht Steinbrücks Etat bei Gesamtausgaben von 261,6 Milliarden Euro eine Neuverschuldung von 38,2 Milliarden Euro vor. Das sind sieben Milliarden Euro mehr als 2005. Es ist die höchste Nettokreditaufnahme, die je in einem Haushaltsplan angesetzt wurde. Die Investitionen liegen mit 23,2 Milliarden Euro deutlich darunter. Dies ist laut Grundgesetz nur erlaubt, um eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes abzuwehren.
Die große Koalition nimmt 2006 bewusst einen erneuten Verstoß gegen die Schuldenregeln des Grundgesetzes und gegen die Defizitkriterien des Euro-Stabilitästpaktes in Kauf. Mit den neuen Schulden soll ein Wachstumspaket finanziert werden. Zudem werden Einmaleffekte wie Privatisierungserlöse auf die Folgejahre verteilt. Hinzu kommen laut Steinbrück Mehrkosten auf dem Arbeitsmarkt.
FDP-Haushaltsexperte Jürgen Koppelin sprach dennoch von Verfassungsbruch. Angesichts der positiven Wachstumsraten könne sich die Koalition nicht auf die Ausnahmeregelung berufen. Der Haushalt erinnere ihn an den Gammelfleischskandal. Das Produkt sei neu verpackt und neu etikettiert worden, aber es bleibe vergammelt. Anja Hajduk von den Grünen nannte es »Volksverdummung«, wenn die Koalition neue Schulden von mehr als 38 Milliarden plane und zugleich von »brutaler Konsolidierung« spreche. Gesine Lötzsch (Linkspartei) warf der Koalition mit Blick auf die Hartz-IV-Korrekturen Populismus vor.
Das Einhalten der Schuldenregeln von 2007 an gilt wegen der Risiken als schwierig. Steinbrück nannte als »schwere Brocken« die Gesundheits- sowie Unternehmensteuerreform sowie den Arbeitsmarkt. Die Finanzplanung sieht bisher für 2007 Investitionen von 23,3 Milliarden Euro vor bei einer Neuverschuldung von 22 Milliarden. Die Vorgaben würden damit - trotz Mehrwertsteuererhöhung - nur knapp erfüllt. Schwierige Verhandlungen werden vor allem für das Ressort von Arbeitsminister und Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) erwartet, der fast die Hälfte aller Ausgaben verwaltet.

Artikel vom 21.06.2006