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Von Matthias Meyer zur Heyde

Warum Proust
Asthma hatte

Coca-Cola repariert jetzt Kühlschränke, oder:


Zehn Tage der WM sind jetzt ohne Panne verstrichen. Warum? Darum: »Wenn während des Turniers irgendwo ein Kühlschrank ausfällt, wird in der rund um die Uhr besetzten Kommandozentrale im Berliner Coca-Cola-Haus an der Problemlösung gearbeitet.«
Danke, Coke!
Wir haben aus der Konzernpostille zitiert. Zurück zum Fußball. Ins Stadion. Wer geht da eigentlich hin? Eine Studie von vor 104 Jahren behauptet: Künstler. 1902 standen der berühmte Quatschmacher Kurt Schwitters (damals 15 Jahre alt) und der berühmte Asthmatiker Marcel Proust (damals 31) auf der Tribüne von Coke, äh, Stoke City (gegen Grimsby Town, falls das wichtig ist), und der Halbwüchsige ging dem Franzmann mächtig auf die Nerven, weil er 90 Minuten lang ohne Punkt und Komma pfiff. Die Kunsthistoriker haben nie rausbekommen, warum, vielleicht war Schwitters bloß sauer, dass sein Kühlschrank kaputt war.
Ein heutiger Ethnologe fand heraus, dass sich die städtische Gesellschaft in der Zusammensetzung des Stadionpublikums spiegelt. Zum Beispiel gibt es 0,3 Prozent Bauern in der Stadt, aber kein Bauer (0,0 Prozent) geht ins Stadion, vielleicht weil er keine Zeit hat, denn schließlich muss er jede Kartoffel und jeden Weizenhalm der geschlossenen Asphaltdecke mühsam abringen.
Laut Studie ist jeder elfte in der Stadt ein Intellektueller, und einer von den elfen bleibt dem Stadion fern, aus Angst, sein Kühlschrank könnte kaputtgehen. Jeder achte Städter ist eine Führungskraft (aha!, es gibt mehr Chefs als Intelligenzler), von denen zwei das Live-Erlebnis versäumen, weil sie den Coca-Cola-Leuten den Weg zum kaputten Kühlschrank weisen müssen.
Bleibt die Frage, warum Schwitters und Proust damals Stoke gegen Grimsby nicht im Fernsehen geguckt haben. Nun, erstens hatten sie keinen Fernseher. Zweitens kriegte Proust sofort Asthma, sobald J.B. Kerners Kommentar sich wie eine Nebelbank über das Spielfeld legte. Und drittens veranstaltete Schwitters in jeder Werbepause ein gellendes Pfeifkonzert: Unser in der Wolle gefärbte Konsumkritiker nagelte und klebte, wie Sie wissen, hingebungsvoll seine zahllosen »Merz«-Bilder, in denen »Merz« für das steht, was von »Kommerz« übrigbleibt, wenn man Coca-Cola aus dem Stadion würfe: nichts Halbes und nichts Ganzes.
Andererseits: Guten Gewissens kann man heute auch keinen Künstler mehr ins Stadion lassen. Der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy gab sich unlängst der Lächerlichkeit preis, als er fragte, ob Puskás' Gegenspieler von 1954, dieser Liebknecht, noch lebe.
Ich stehe vor meinem Kühlschrank und denke: LIEBKNECHT? Hieß der nicht Liebherr? Oder Bauknecht?
Nee, Liebrich!, bölkt einer aus der Sportredaktion rüber. Danke. Wenigstens einer, der Fußball noch von Kommerz unterscheiden kann.

Artikel vom 19.06.2006