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Der Geheimtipp im Hinterhof
Im Bielefelder Museum Wäschefabrik scheint die Zeit in den 1960er Jahren stehen geblieben zu seinWenn Nordrhein-Westfalen am 26. und 27. August seinen 60. Geburtstag zelebriert, feiert das Bielefelder Museum Wäschefabrik in Düsseldorf mit. Es wird den Bürgern des Landes mit einer kleinen Ausstellung von Ostwestfalen erzählen.
Es berichtet von der Wäscheindustrie und von Nähmaschinen, von den kleinen Geschichten der Menschen und von der großen deutschen Geschichte, von einem Wirtschaftswunder und von Globalisierung, von Verfolgung und Glück.
Das Museum Wäschefabrik ist eingeladen worden, weil es außergewöhnlich ist. Seit der Eröffnung 1997 gilt es als Geheimtipp in der deutschen Museumsszene. Wer das Gebäude in einem Hinterhof an der Viktoriastraße zum ersten Mal betritt, traut seinen Augen nicht. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, irgendwann in den 1960er Jahren. Im Nähsaal liegen die Schnittmuster bereit, warten die Nähmaschinen auf die geschickten Hände der Näherinnen, im Chefbüro liegt ein Radiergummi mit den Initialen des letzten Besitzers.
Die Tür geht auf, Schritte sind zu hören. Doch keine Arbeiterinnen und Angestellte überraschen den Besucher, sondern Rüdiger Uffmann. Der 55-Jährige ist Vorstandsmitglied des Fördervereins des Museum, der sich einst gründete, um diese Wäschefabrik zu erhalten. Die Nordrhein-Westfalen-Stiftung ermöglichte den Kauf. Die Stadt Bielefeld unterstützt den gemeinnützigen Verein finanziell. »Es ist eine tolle Sache, dass wir zum NRW-Jubliäumsfest eingeladen worden sind«, sagt Uffmann. »Das ist Ansporn zum Weitermachen.«
Dieses einzigartige Industriedenkmal würde es aber nicht geben, wäre da nicht Hugo Juhl gewesen. Als 20-Jähriger schickte ihn sein Vater 1892 zur Ausbildung in ein Aussteuergeschäft von Meckenheim nach Bielefeld. Juhl, Deutscher jüdischen Glaubens, übernahm dieses Geschäft, heiratete Clara Selig aus Unna und ließ 1912/1913 die Fabrik samt Wohnung bauen.
»Hugo Juhl war nicht nur ein guter Unternehmer, er hatte auch viel Sinn für das Schöne«, erzählt Uffmann. Eine zweigeschossige holzvertäfelte Halle, die durch ein großzügiges Jugendstil-Oberlicht erhellt wird, spricht Bände.
Als die Wäschefabrik »Juhl & Helmke« gegründet wurde, war Bielefeld längst die Wäschestadt. Mehr als 200 Fabriken und Nähstuben beschäftigten etwa 4000 Näherinnen, die Aussteuerprodukte, Herrenhemden und Damenblusen fertigten. Nachdem die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, wanderten Juhls Schwiegersohn Fritz Bender und Tochter Hanna nach Holland aus. Doch der Unternehmer blieb in Bielefeld: Hier war seine Heimat. Erst 1938 verkaufte er die Fabrik, um die Auswanderung zu finanzieren, an die Dresdner Brüder Theodor und Georg Winkel. Hugo Juhl starb in Bielefeld, Ehefrau Clara und Tochter Mathilde flüchteten Ende 1939 nach Holland. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht und einer gescheiterten Flucht nahmen sich die Frauen in Amsterdam das Leben.
Lediglich Schwiegersohn Bender gelang die Flucht, die in Kanada endete, wo er ein neues Leben begann. 1994 und 2000 besuchte Bender, ein bemerkenswert intelligenter und freundlicher Mann, den Förderverein. »Das waren sehr emotionale Stunden«, sagt Uffmann. Auszüge aus diesem Interview werden zu sehen sein, wenn das Museum demnächst die Geschichte der Familie Juhl vorstellt.
Uffmann wirft derweil im Nähsaal den Elektromotor des Kraftarbeitstisches an, an dessen Transmission zwölf 70 Jahre alte Nähmaschinen hängen. An der Knopfannähmaschine sitzt nebenan Siegfried Hörning. Der 75-Jährige arbeitete von 1947 bis 1994 bei Dürkopp. Beinahe auf der ganzen Welt machte er Näherinnen und Techniker mit Nähmaschinen vertraut. Heute sorgt er dafür, dass alles rund läuft und ist häufig bei Öffnungstagen mit dabei. »Es macht Spaß, wenn junge Leute Interesse an der alten Technik zeigen.«
Hier im Nähsaal stehen die Maschinen der vier großen Bielefelder Hersteller: Phoenix, Anker, Adler und Dürkopp. In den 1950er Jahren beschäftigte dieser Industriezweig in Bielefeld 25 000 Menschen. Solche Informationen und die authentische Atmosphäre sind es, die die Besucher faszinieren: Die Jungen staunen, die Älteren erinnern sich.
Der Weg von der Fabrik zum Museum ist ein Spiegelbild der westdeutschen Wirtschaftsgeschichte: Die Brüder Winkel profitierten in den 50er Jahren vom Wirtschaftswunder. Dann machte sich die Krise der deutschen Textil- und Wäscheindustrie bemerkbar. Kleidung kam immer häufiger aus dem Ausland, Aussteuerwäsche war nicht mehr gefragt. Die Belegschaft wurde abgebaut, ehe dann 1980 so gut wie Schluss war.
Fast: Theodor Winkel lebte bis zu seinem Tod 1991 in der Wohnung und rief manchmal eine Näherin an, um ein Hemd nähen zu lassen. So wurde die Fabrik in einem 1960er-Jahre-Zustand konserviert. Als die Geschichte des Unternehmens entgültig endete, begann die Geschichte des Museums. Die Zeit mag hier still stehen, doch im Dornröschenschlaf befindet sich die Wäschefabrik nicht: Es gibt Näh- und Stickvorführungen, Lesungen und Musik in der Wohnung sowie Führungen durch das umliegende alte Industrieviertel und das Gebäude.
Lars Rohrandt

Artikel vom 24.06.2006