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»Klar muss sein, dass die EU-Verfassung in ihrer jetzigen Form keine Chance hat.«

Leitartikel
EU-Gipfel

Verfassung
ist das
falsche Wort


Von Dirk Schröder
Europas Zukunft liegt weiterhin im Dunkeln. Das zweitägige Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel hat zur Lösung der Verfassungskrise wenig Erhellendes gebracht.
Nach den Abstimmungsniederlagen in Frankreich und den Niederlanden über die Verfassung vor einem Jahr hatte sich die Europäische Union zunächst eine »Denkpause« verpasst, um wieder neuen Schwung in die Verfassungsdebatte zu bringen. Doch dieses eine Jahr war ein verlorenes Jahr, denn außer das Problem weitestgehend totzuschweigen, ist nicht viel geschehen. Das zeugt von großer Ratlosigkeit.
Man weiß nicht, wie man Paris und Den Haag wieder zurück auf den gemeinsamen europäischen Weg bringen kann. Beide Regierungen werden mitnichten ihren Bürgern denselben Verfassungsentwurf noch einmal zur Abstimmung vorlegen - und vor den Parlamentswahlen Mitte nächsten Jahres werden weder Frankreich noch die Niederlande mit sich über einen möglichen Plan B auch nur reden lassen.
Einen Plan B, den es überhaupt noch nicht gibt. Also geht man erst einmal in die Verlängerung. Vielleicht gelingt ja noch der große Durchbruch, allzu große Hoffnung ist aus heutiger Sicht aber nicht angebracht.
Auch wenn die Regierenden in Europa auf Bundeskanzlerin Angela Merkel setzen, die neuen Schwung in die Verfassungsdebatte bringen soll. Wunderdinge sind von ihr nicht zu erwarten, selbst wenn sie in ihrer noch kurzen Regierungszeit schon einige außenpolitische Volltreffer gelandet hat.
Ein Mann der deutlichen Worte war der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker schon immer, wenn es um die Zukunft Europas geht. Seine harte Kritik an der europafeindlichen Haltung Großbritanniens hat dennoch überrascht. Er kann sich vorstellen, die EU ohne die Briten fortzuführen, wenn sie die Verfassung ablehnen sollten. Recht hat er, Europa hat in Downing Street immer dann stattgefunden, wenn es von Vorteil für das Land war. Den Euro als Währung wollen sie auf der Insel nicht haben. Doch wenn es gilt, in Brüssel Euro abzukassieren, legen sie ihre britische Zurückhaltung ab.
Die gegenwärtige europäische Krise sollte auch dazu genutzt werden, den Briten deutlich zu machen, dass Europa auf sie nicht unbedingt angewiesen ist. Der besonnene Juncker hat dies nicht nur als leere Drohung gemeint.
Auf Frankreich dagegen kann als Motor für Europa nicht verzichtet werden, auch wenn dieser Motor im Moment nichts vom Fleck zieht. Mit deutscher Hilfe könnte er wieder anspringen.
Klar muss sein, dass die Verfassung in ihrer jetzigen Form keine Chance hat. Die Substanz muss aber erhalten werden. Es gilt jetzt, neues Vertrauen der Bürger in Europa zu gewinnen. Und vielleicht zerstreut man die Ängste vor einem europäischen Superstaat, wenn man nicht länger von einer Verfassung spricht. Ein EU-Grundsatzvertrag tut es auch.

Artikel vom 17.06.2006