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Verfassung auf dem Abstellgleis

EU-Gipfel in Brüssel verschiebt nötige Entscheidungen um Jahre

Brüssel (dpa). Knapp 50 Jahre nach ihrer Gründung bremst die Europäische Union ihre Weiterentwicklung kräftig ab. Die Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Staaten verschoben nötige Entscheidungen zur Lösung der Verfassungskrise am Freitag in Brüssel um Jahre.

»Die deutsche Präsidentschaft wird sich anstrengen, einen Fortschritt zu erreichen, sie wird es aber nicht alleine schaffen«, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu ihren Plänen für 2007. Echte Beschlüsse zur Lösung des Problems vertagte der Gipfel bis zur französischen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008.
Damit steht die Verfassung, mit der die Gemeinschaft flexibler und handlungsfähiger werden wollte, vorerst auf dem Abstellgleis. Die Staats- und Regierungschefs sprachen in ihrer Abschlusserklärung von einem »zweigleisigen Ansatz«. Während das Verfassungsproblem wartet, sollen konkrete Vorhaben - etwa bei Beschäftigung, Bildung und Einwanderung - auf die Schiene gesetzt werden.
Angesichts der Flüchtlingskrise auf den Kanaren und im Mittelmeerraum wollen die EU-Staaten Innen- und Außenpolitik enger verzahnen. Neben der Zusammenarbeit mit Afrika in Migrationsfragen fordert der Gipfel die weitere Entwicklung eines gemeinsamen Asylsystems und rasche Fortschritte bei regionalen Schutzprogrammen. Die sollen laut Abschlusserklärung in der Ukraine, Moldawien, Weißrussland und Tansania entstehen. Außerdem sind gemeinsame Visumantragsstellen in Drittländern geplant. »Weitere Anstrengungen« seien nötig, damit die Grenzkontrollen zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten wie geplant 2007 wegfallen können.
Die weitere Vergrößerung der Union gerät ohne neues Vertragswerk jedoch ins Stocken. »Wir brauchen einen besseren Vertrag«, sagte der österreichische Bundeskanzler und EU-Ratspräsident Wolfgang Schüssel. Dies sei eine Voraussetzung zur Aufnahme neuer Mitglieder nach Bulgarien und Rumänien. Die Erfüllung der Kriterien durch die Kandidaten und und ausreichende Aufnahmefähigkeit der EU seien zwei sich ergänzende Bedingungen. Dazu reicht der geltende EU-Vertrag von Nizza auch nach Auffassung von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso nicht aus: »Nizza ist nicht genug«, sagte Barroso.
Welche Schwierigkeiten die 25 EU-Staaten bei Entscheidungen ohne modernes Vertragswerk haben, sollen die Bürger künftig leichter als bisher verfolgen können. Sämtliche Beratungen im Ministerrat über Rechtsakte, über die das Europa-Parlament mitentscheidet, sollen laut Gipfelbeschluss öffentlich sein. Wie Aussprachen zu Themen, »die die Interessen der Union und ihrer Bürger berühren«, sollen sie im Internet übertragen werden und dort einen Monat abrufbar bleiben.
Die kritische Erklärung Litauens und mehrerer anderer EU-Beitrittsländer zu den Aufnahmekriterien für die Euro-Zone haben auf dem EU-Gipfel zu Streit geführt. »Das war weder gut noch hilfreich«, sagte Barroso am Freitag in Brüssel. Der tschechische Präsident Vaclav Klaus reagierte erbost: »Will er (Barroso) damit sagen, dass sich Länder nicht zusammentun und Erklärungen abgeben können?« Der Euro-Beitritt Litauens war von der EU-Kommission wegen überhöhter Inflation abgeschmettert worden; Vilnius fühlt sich ungerecht behandelt.
Der EU-Gipfel gab grünes Licht für die Aufnahme Sloweniens in die Euro-Zone im Januar 2007.
Die Zypernfrage droht die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU zu sprengen. Die Türkei wies am Freitag energisch Forderungen der EU zurück, endlich Zypern anzuerkennen, und will notfalls einen Stillstand der Verhandlungen in Kauf nehmen. Auf dem EU-Gipfel machte unter anderen Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac klar, dass die EU die ablehnende Haltung der Regierung in Ankara höchstens bis Jahresende akzeptieren werde.
Seite 4: Leitartikel

Artikel vom 17.06.2006