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Mit Deutschland im Rücken

Bundestrainer gibt seinen Siegern frei - Duell mit England hat noch Zeit

Von Friedrich-Wilhelm Kröger
Berlin (WB). Das WM-Quartier in Berlin hat sich geleert. Einige Vögel sind ausgeflogen. Einmal durchlüften, ausschnaufen, alles sacken lassen: Einige Nationalspieler verstreuten sich in ihre Heimatstädte, andere blieben. Jeder hatte die freie Wahl, auch über Nacht. Nächster Dienstantritt ist Samstag, 18 Uhr, zum Training.

Dann beginnt nach 28 Stunden Freizeit die Vorbereitung auf das mutmaßliche »England-Verhinderungsspiel«; am Dienstag in Berlin geht es gegen Ecuador um den Gruppensieg. Ein 1:0 der starken Südamerikaner gegen Costa Rica hätte es auch getan. Es wurde ein 3:0. So muss die DFB-Auswahl gewinnen, um Platz 1 zu belegen.
Das macht aber nichts, das wollte sie sowieso. »Weiter zu gewinnen, ist wichtig für das Bild, das wir den anderen von uns zeigen«, sagt Nationalelf-Manager Oliver Bierhoff. Das 1:0 gegen Polen und die Art, wie es vor der Kolossalkulisse in Dortmund zustande kam, hinterließ schweren Eindruck. Umgekehrt ergab das bisherige Studium der Konkurrenten gar nicht so viel Besorgniserregendes. Ganz im Gegenteil: Mit Deutschland im Rücken scheint Deutschland auf einmal alles möglich zu sein. Am Ende trieb das berauschte Publikum ein wie in Trance spielendes Team zum Siegtreffer durch Oliver Neuville.
Das erlösende Tor hätte Flankengeber David Odonkor fast die Orientierung in häuslicher Umgebung gekostet. Obwohl in der Borussia-Arena zu Hause, wusste der Flügelblitz im bisher größten Moment seiner Karriere »gar nicht, wo ich hinlaufen sollte.« Jetzt will er einfach nur, dass es so weiterläuft. Dabei ist der Ausnahmezustand, den das Land ausgerufen hat, im Prinzip gar nicht angemessen: »Das war kein Endspiel. Wir müssen wieder runterkommen«, mahnt Bierhoff nach dem emotionalen Höhenflug.
Eine absolute Bruchlandung kann es schon jetzt nicht mehr geben. Ecuadors Erfolg gegen Costa Rica sicherte auch Deutschland die Teilnahme am Achtelfinale; in drei Tagen streiten sich die beiden darum, wer der Beste der Gruppe A ist. Der Bundestrainer hält es mit Bierhoff: »Unser Ziel ist es, auch dieses Spiel zu gewinnen«, sagt Jürgen Klinsmann, der den Spielern freigab, sich selbst und seinem Stab allerdings nicht. Sie haben sowieso nichts besseres vor. Wer Klinsmann zuhört, muss glauben, dass der Mann und seine Mannschaft ihr Werk auch nach der Weltmeisterschaft fortführen: »Wir gehen in dieser Aufgabe auf.«
Zunächst interessiert die nahe Zukunft. Wer als übernächster kommt, ist die spannendste Frage. Erst Ecuador - und dann? »Nicht gegen England, dieses Spiel wäre uns zu einem späteren Zeitpunkt lieber«, sagt Philipp Lahm, der sich der mehrheitsfähigen Meinung anschließt, dass es ruhig ein anderes Team sein darf. Also Schweden. Oder Trinidad & Tobago. Es rollen noch drei Kugeln in dieser Verlosung.
Die Anhänger sind ohnehin überzeugt davon, dass sie ihre Mannschaft noch weit über das Achtelfinale hinaus tragen werden. Das hält auch Christoph Metzelder für möglich; sogar den einiges gewohnten Borussen hatte die Ballnacht von Dortmund fasziniert: »Sowas habe ich hier noch nicht erlebt. Es war das emotionalste Spiel meiner Karriere.« Zu vergleichen nur mit dem Halbfinale der WM 2002 gegen Gastgeber Südkorea in Seoul.
Diesmal kochte der Hexenkessel zu Hause über. Die unbändige Kraftübertragung von der Tribüne stärkte zugleich den Ruf der Deutschen, ein nicht sonderlich beliebter Gegner zu sein, wenn die Maschinen erst angeworfen sind. Metzelder ahnt förmlich, dass deswegen sogar die Favoriten weiche Knie bekommen: »Der Mythos von Deutschland als Turniermannschaft lebt.« Die Spieler wissen überall eine Wand zum Anlehnen hinter sich.

Artikel vom 17.06.2006