24.06.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Eher als ein echter Galizier
tanzt ein Affe Flamenco
Geistliche und weltliche Entdeckungen in Santiago de Compostela
Nix is' mit Toreros, Fiesta und Olé! »Vergessen Sie alles, was Sie über Spanien gehört haben«, schmunzelt Dr. Tommi Alvarellos. »Wir lachen nicht, die Sonne scheint selten und es regnet viel. Galizien ist ein trauriges Land.« Und eher würden die Affen von Gibraltar Flamenco tanzen als die Einwohner zwischen Vigo und La Coruna. Die Galizier sind stolz auf ihre keltischen Wurzeln, deshalb musizieren sie mit Flöte, Drehleier und Dudelsack.
So ganz freudlos scheint das Leben im äußersten Nordwesten Spaniens jedoch nicht zu sein, denn Tommi sitzt der Schalk ganz gewiss im Nacken, wenn er vom galizischen Matriarchat erzählt und seinen Gästen einen wichtigen Tipp gibt: »Fragen Sie nie einen Mann - das wäre reine Zeitverschwendung, denn er gibt Ihnen keine Antwort, bevor er nicht seine Frau gefragt hat.«
Einen sympathischeren Botschafter als Tommi können sich die Galizier nicht wünschen - und Touristen keinen besseren Reiseleiter. Tommi steht sowohl Gruppen als auch Individualreisenden zur Verfügung. Und so legt nicht nur die Crew der »MS Vistamar« Wert darauf, dass der in Marburg promovierte Germanist die Passagiere auf dem Tagesausflug nach Santiago de Compostela begleitet. Zehn Stunden dauert dieser Landgang - durchaus angemessen angesichts der kulturellen und religiösen Bedeutung des Ortes.
Auf der kurzen Fahrt von Vigo in den nach der Vatikanstadt und Jerusalem drittheiligsten Ort des Christentums erzählt Alvarellos noch, dass der am weitesten verbreitete Familienname Galiziens Castro lautet, der kubanische Diktator gleichen Namens von galizischen Auswandern abstammt - und dass Buenos Aires mit zwei Millionen galizischen Nachfahren eigentlich die größte Stadt dieser Volksgruppe mit eigener Sprache und Kultur ist.
Dann ist schon Santiago, der Schluss- und Höhepunkt des Jakobsweges, erreicht. Tommi preist seinen Ort ganz unbescheiden als schönste Stadt der Welt an - doch auch nach objektiven Kriterien gehört dieses Weltkulturerbe ganz sicher zu den fünf sehenswertesten Orten Europas. Auf die Pilger wartet nach 30-tägigem Marsch von den Pyrenäen nach Santiago de Compostela doch zunächst das Durchqueren unattraktiver Gewerbegebiete.
Die Tages-Touristen kommen am Busbahnhof an. Seit 1993 der Boom des Jakobsweges als touristisches Produkt begann und Santiago de Compostela in den Fokus des Massentourismus geriet, haben die Stadtväter ein cleveres Konzept entwickelt, um der Massen Herr zu werden, die durch den mittelalterlichen Stadtkern zur alles überragenden, riesigen Kathedrale ziehen.
Kamen in den Siebzigern noch 80 000 Besucher, davon 1000 Pilger, so hat sich diese Zahl auf neun Millionen Touristen, davon 200 000 Pilger im Jahr 2005, vergrößert.
So betreiben die Fanziskaner heute in ihrem Kloster auch ein Viersterne-Hotel - und das noble Fünfsterne-»Paradore dos Reyes Catolicos« an der Plaza Espana gewährt den zehn ersten Pilgern des Tages drei kostenlose Mahlzeiten, auch wenn sie sich 500 Euro für eine Übernachtung nicht leisten können.
Bei allem Trubel: Die geistliche Würde des Ortes hat nicht gelitten. Gelassen reagieren die kirchlichen Würdenträger auf den Ansturm der kamerabewehrten Neugierigen, wenn zu hohen Festtagen das größte Weihrauchfass des Christentums geschwenkt wird. 1,60 Meter ist das silberne Prunkstück hoch, es wiegt 55 Kilo und hängt an einer technisch ausgeklügelten Seilkonstruktion.
Mehrere kräftige Männer bringen es durch gezielten Körpereinsatz so zum Schwingen, dass es mit 65 Stundenkilometern quer durch die beiden Querschiffe der Kathedrale rast - welch ein Symbolismus für die gewaltige Kraft des Glaubens.Thomas Albertsen

Artikel vom 24.06.2006