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»Ü80« sind die Kicker-Senioren

Im Wilhelm-Augusta-Stift rollt parallel zur WM die kleine Kunststoffkugel

Von Michael Diekmann
und Carsten Borgmeier (Fotos)
Bielefeld (WB). Erich Viol hält den Ball flach und lässt im Tor nichts anbrennen, Hans-Günter Kottmeier verwandelt eiskalt und Rolf Sanderbrink kurbelt im Mittelfeld. »Wenn die Ü80 am Kicker aufdrehen, fehlen den Junioren die Worte«, schwärmt Sozialdienstler Lothar Kopsch. Im Wilhelm-Augusta-Stift war Fußball immer die schönste Nebensache. Seit dem WM-Start ist alles anders, gibt es im Seniorenheim sogar ein eigenes Kickerturnier.

Mehr als 120 ältere Damen und Herren leben im idyllischen Augusta-Stift am Lipper Hellweg. Ein gutes Dutzend ist fußballverrückt, verrät Lothar Kopsch (49) augenzwinkernd. In der großen Halle, direkt neben dem Kiosk, steht der nagelneue Kicker. Angeschafft vom Haus, um den Bedarf der Senioren an aktivem Fußball zu decken. Fähnchen schwenken und Übetragungen auf der Großleinwand mit Nachbarn und Freunden zu schauen reicht den vitalen Experten keineswegs.
Die Idee mit dem hauseigenen Kickerturnier ergab sich dann ganz von allein. Senioren, Hauspersonal und Zivildienstleistende bildeten Zweierteams, jeweils für eine bei der WM vertretene Nation und spielen ihre eigene Meisterschaft aus. Damit nicht genug: Eigentlich wird täglich gekickert an dem neuen Tisch, wird geklönt und gefachsimpelt. »Ich spiele für England, habe gewonnen«, erzählt Rolf Sanderbrink über seine erfolgreiches Team mit Zivi Emanuel Mascheweski. Hans-Günter Kottmeier spielt mit Pflegerin Regine Stirn als Trinidad-Tobago.
»Früher 1953 haben wir zusammen gespielt«, erzählt der 80-Jährige und zückt seinen vergilbten Spielerpass. Eingeklebte Wertmarken, das Wappen des Fußballverbandes und fein chronologisch aufgelistet, wo der Bielefelder an den Ball getreten ist. Fichte, VfB, dann Arminia. Kottmeier, früher »Schotte« genannt kickte zu Zeiten von Eiche Haubrock als rechter Läufer. Sanderbrink war linker Verteidiger, genannt »Teufel« - wegen der »schwatten Haare«.
Fußball ist heute anders, ganz anders, erinnern sich die Kicker von einst. Kottmeier, der 1954 die WM schon vor einem ersten flimmernden Schwarzweiß-Fernseher in der heimischen Stube erlebte, Sanderbrink, der wie viele Gleichaltrige vor dem Schaufenster das Wunder von Bern miterlebte, mussten sich durchbeißen im Nachkriegsdeutschland auf den Schlackeplätzen der Region. Härte, Verletzungen und ganz andere Technik als 2006 haben sie festgestellt. Dazu die Macht der Medien.
»Die Welt zu Gast bei Freunden« steht als Motto über der WM. Das gilt für die Fans im Augusta-Stift allemal. Mit einem Augenzwinkern kommentieren die Ü80, dass Pflegehelferin Alina Szczurek (40) nicht nur als Polin ein 2:1 gegen Deutschland getippt hatte, sondern auch im Polen-Trikot an den Kicker tritt, wo Kottmeier im Deutschland-Hemd samt Bemalung im Gesicht aufläuft. Fußball verbindet - und bis zum Ende der Vorrunde ist alles drin, finden die Augustaner: Deshalb darf auch die Polenflagge im Fußballdome nenen dem Kiosk hängen bleiben. Einzig auf die Frage nach dem neuen Weltmeister möchte sich niemand der erfahrenen Herren festlegen. Nur eines ist sicher, glaubt Rolf Sanderbrink: »Die Brasilianer haben anfangs ziemlich geblufft...«

Artikel vom 17.06.2006