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Singen, bis der Stein zum Felsen wird

Nationalhymnen künden von Blut und Eisen - manchmal aber auch von Gottes schöner Natur

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Mon dieu! Was macht denn da Zidane? Pflügt seinen Gegenspieler einfach unter! Hat er ja auch angedroht: »Marchons! Marchons! Qu'un sang impur abreuve nos sillons! - Lasst uns marschieren, auf dass das unreine Blut unsere Äcker tränke!«

Ein Pfiff gegen den citoyen (Bürger) Zidane - schon baumelt der Schiedsrichter am Flutlichtmast, derweil die Spielerfrauen von den brüllenden Kriegern der Heeresgruppe F (Schweizer, Südkoreaner und Togoer) geköpft werden. Puh, Glück gehabt: Die Welt ist zu Gast bei Freunden - es war alles nur Nationalhymne!
Die »Marseillaise«, 1792 zur Aufmunterung der Revolutionäre in ihrem Kampf gegen Europas monarchietreue Armeen komponiert, illustriert perfekt, wie zeitgebunden Hymnentexte sind. Wir Deutschen haben ja bereits 100 Jahre nach Hoffmann von Fallersleben die Sehnsucht gar nicht mehr verstanden, die aus den Zeilen »Deutschland, Deutschland, über alles« (1841) spricht, haben Großmäuligkeit in sie hineininterpretiert und der Einfachheit halber die dritte Strophe zur Nationalhymne erklärt.
Es gibt Länder, die sind da völlig schmerzfrei. »Siam pronti alla morte, l'Italia chiamo! - Wir sind bereit zum Tod, Italien hat gerufen!«, schmettern seit 1847 die Fanfaren. Kurz darauf sank der freiheitstrunkene Texter, der Student Goffredo Mameli, im Kugelhagel vom Ross - Camoranesi und seine fratelli d'Italia würden heute wohl schon für einen gefönten Pferdeschwanz ihr Leben geben.
Der »rugir del Cañón«, das Donnergrollen der Kanonen, erbebt auch jenseits des Atlantiks, wo die Mexikaner, »den Stahl fest in der Hand«, ihren »grito des guerra« erheben, ihr Kriegsgeschrei. Jeder Sohn des Landes ein Soldat - nicht erst, seit der gewaltige Nachbar im Norden den Mexikanern Texas und andere schöne Ländereien raubte.
»O say, can you see . . . the rockets' red glare, the bombs bursting in air?« Ja, wir sehen deine rotglühenden Raketen und deine krepierenden Bomben, Amerika. Dein »Star-Spangled Banner« flattert allüberall auf den Schanzenspitzen (»o'er the ramparts«).
Auch die Argentinier lieben es laut, aber es ist nur der »ruido de rotas cadenas«, der Lärm gesprengter Ketten - libertad, libertad, libertad! Vielfach aber musste erst das Territorium gewonnen werden, auf dem sich die Freiheit - hoffentlich! - in ganzer Pracht entfalten konnte. »Jeszcze Polska nie zginela - noch ist Polen nicht verloren«, trotz dreier Teilungen, trotz Hitler und Stalin. Irgendwann aber werden die Menschen einziehen ins gelobte Land - Heil dir »ô terre d'esperance«, du Land der Hoffnung: »geliebte Elfenbeinküste«.
»Australians, let us all rejoice«, lasst uns jubeln, denn wir haben gold'nen Boden, und die Natur beschenkt uns reich, singen froh die Nachkommen jener Sträflinge, die einst Känguruh, Wombat, Koala & Co. jeden Grashalm einzeln entwinden mussten.
Die Schweden freuen sich über das »vanäste land uppå jord«, über das lieblichste Land der Erde, und zum Lobe Brasiliens hat Joaquim Osório Duque Estrada (1870-1927) empfindsame Lyrik verfasst (»An den ruhigen Ufern des Ipiranga«). Über diesen Zeilen strahlt »lächelnd und klar« sogar ein berühmtes Sternbild: das Kreuz des Südens.
Zwei Völker wissen, wem sie soviel Schönheit zu danken haben: »God bless our homeland Ghana« heißt es in einem kleinen Land in Westafrika, und »eure fromme Seele ahnt Gott im hehren Vaterland« singen die Schweizer, deren Hymne »Trittst im Morgenrot daher« erst 1961 offiziell angenommen wurde.
Die Engländer erflehen zweierlei: den zweiten Weltmeistertitel nach 40 Jahren und Gott Schutz für ihre gnädige Königin. Und wo sonst ist der Thron wichtig? Hören Sie: »Gebieter, Eure Herrschaft soll dauern 1000 Generationen, 8000 Generationen, bis der Stein zum Felsen wird und Moos seine Seiten bedeckt.« Japan. Aus dem »Kokinshu«-Epos des 9. Jahrhunderts. Schön, oder?
Dann sind da noch ein paar Leutchen, die sich immer ärgern, wenn's feierlich wird: 400 Jahre nach einem grausam geführten Freiheitskampf gegen Madrids Machtgelüste singen sie immer noch: »den König von Spanien hab ich allzeit geehrt«. Und 32 Jahre nach dem 1:2 durch Tore von Breitner und Müller wiederum dünkt sie die erste Zeile ihrer Hymne besonders schmachvoll: »Wilhelm von Nassau bin ich von deutschem (!) Blut«. Hup, Holland, hup! Mit ein wenig gutem Willen wird's schon gehen . . .
Zum Schluss eine Frage: Haben Sie Raúl und Xavi und Casillas und die anderen schon mal singen sehen? Nein? Geht auch gar nicht - Spaniens Hymne hat nämlich keinen Text.
Das ist nicht die schlechteste Form von Nationalbewusstsein.

Artikel vom 14.06.2006