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Vom Schulbau zur Justizvollzugsanstalt

WESTFALEN-BLATT-Serie - Folge 3: Vor 80 Jahren kurten lungenkranke Kinder in der Waldschule

Von Annemargret Ohlig
Senne (WB). »Welcher der vielen Wanderer, die sommertags die Senne durchziehen, weiß etwas von der Waldschule am Teutoburger Wald? Scharfe Augen können das rote Dach ihres Wasserturms von den Brackweder Bergen aus zwischen den Kiefernwäldern entdecken.«

Mit dieser idyllischen Lagebeschreibung beginnt Karl Triebold 1927 im Heimatkalender für das Minden-Ravensberger Land »Der Ravensberger« seinen Bericht über das Kindergenesungswerk der Landesversicherungsanstalt Westfalen. Knapp acht Jahrzehnte später ziehen sommertags immer noch viele Wanderer durch die Senne. Und die wenigsten wissen, dass es hier, im Dreieck zwischen Senner Straße und Karl-Triebold-Straße, einmal eine »Waldschule Senne I bei Bielefeld« gab.
Zu wechselvoll sind Geschichte und Nutzung dieser Einrichtung. Ursprünglich verwirklichte der Pädagoge Karl Triebold auf dem 50 Morgen großen Gelände seinen Traum von einer Heilstätte für tuberkulös gefährdete Kinder. Heute gehört das Areal dem Land: die Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne (offener Vollzug) ist dort angesiedelt.
An eine solche »Karriere« dachte wohl niemand, als am 15. Juni 1923 die ersten 60 Kinder in der Waldschule begrüßt wurden. Nach deren endgültiger Fertigstellung waren 300 Plätze vorhanden, in Ausnahmefällen konnten sogar 320 Kinder untergebracht werden. Es waren Jungen und Mädchen aus den Großstätten, die auf Grund ärztlicher Gutachten von den örtlichen Gesundheitsämtern oder Tuberkulosefürsorgestellen ausgesucht und für mindestens sechs, zum Teil sogar zwölf Wochen zur Kur mit Schulunterricht in die gesunde Senner Landluft geschickt worden waren.
Die Waldschule hatte es sich aber nicht nur zum Ziel gesetzt, den Kindern für den Augenblick zu einer Gewichtszunahme und Bräunung der Haut zu verhelfen. Vielmehr legt der Waldschul-Direktor großen Wert auf eine »gesundheitliche Tageseinteilung«. »Die Körperpflegestunde bringt wohl am meisten Stoff zum Nachdenken«, schreibt Triebold.
»Die Kinder werden in regelmäßiger Arbeit daran gewöhnt, sich täglich gründlich abzureiben, auf Sauberkeit der Zähne, auf rechte Nagelpflege zu achten; lauter Dinge, die sie mit wenig Zeit- und ohne Geldverlust zu Hause weiter durchführen können.« Auf diese Weise will der Waldschul-Direktor die Jungen und Mädchen befähigen, möglichst selbst dauerhaft an der Erhaltung und Kräftigung ihrer Gesundheit mitzuarbeiten.
16 Jahre nachdem die Waldschule ihren Betrieb aufgenommen hat - in der Zwischenzeit war noch eine Haushaltungsschule für Tbc-gefährdete Mädchen und das Haus »Waldheim« für Infektionskranke hinzu gekommen - kommt das Aus. Das Kurheim wird im August 1939 zum Reservelazarett. Nach Kriegsende beschlagnahmt die Militärregierung das Lazarett und richtet dort ein Hospital für heimatlose Ausländer ein.
Im Mai 1948 wird die Einrichtung in die Hände der Landesversicherungsanstalt Westfalen zurückgegeben. Neben den zu betreuenden Ausländern finden anfangs auch wieder lungenkranke Kinder in der Heilstätte Aufnahme. 1958 erfolgen die Umstellung und der Ausbau zu einer Fachklinik, im Volksmund Lungenheilstätte genannt.
Als Anfang 1983 der Chefarzt kündigt, wird über die Schließung der Klinik nachgedacht, die ein Jahr später erfolgt. Danach wird's turbulent: Die AWO ist interessiert und will dort ein Pflegeheim einrichten. Auch ein Rechtsanwalt aus der Nähe von Bremen unterschreibt einen Kaufvertrag für die Immobilie und plant dort ein Schwerstpflegeheim. Der Interessent zahlt jedoch nicht - der Vertrag platzt im Mai 1985.
Ein Jahr später lockt die Heilstätte den Justizminister in Düsseldorf. Der Standort in Senne wird auch für die Einrichtung eines Primatenparks, den die Universität in Bielefeld einrichten möchte, diskutiert. Im September 1986 ist der Schwebezustand um die ehemalige Waldschule und Lungenheilstätte beendet: Das Land Nordrhein-Westfalen kauft die Immobilie. Untergebracht wird dort die Verwaltung der Justizvollzugsanstalt Senne, ein Hafthaus mit 170 Plätze für den offenen Vollzug geschaffen. Die JVA wird am 10. Oktober 1991 eröffnet.
Die nächste Folge der WESTFALEN-BLATT-Serie »Anno dazumal« beschäftigt sich mit dem Abbau von Ton und Kalk in Brackwede.

Artikel vom 15.06.2006