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Tolle Party im nationalen Dress

Schwarz-Rot-Gold ist derzeit staatliches Symbol wie auch bloße Gaudi

Von Dietmar Kemper
und Matthias Meyer zur Heyde
Gütersloh (WB). Sie wehen aus Autos und liegen in Fenstern und auf Balkonen: schwarz-rot-goldene Fahnen. Ist das nun Ausdruck eines neuen, womöglich gar ungesunden Patriotismus, oder macht die junge Generation einfach Party im passenden Dress?

»Das ist gesunder Patriotismus, kein Nationalismus«, sagt Michael Seberich, Projektleiter Politik der Bertelsmann-Stiftung in Gütersloh. »Rechtsextremisten benutzen andere Symbole: die Reichskriegsflagge und Runen«, betont der Experte. Nationalismus bedeute die Abgrenzung von anderen Ländern und Völkern sowie zugewanderten Menschen. Patriotismus dagegen könne als Zeichen für ein gesundes Verhältnis zum eigenen Land interpretiert werden.
Fußballweltmeisterschaften wie die von 1954 seien wichtige Momente für die Identitätsbildung einer Gesellschaft. Bei solchen massenwirksamen Ereignissen denke ein Volk über zentrale Werte seines Zusammenlebens nach. Während der Weltmeisterschaft 2006 mache Deutschland einen großen Schritt auf dem Weg zu einem normalen, selbstverständlichen Umgang mit dem über Fahnen ausgedrückten Patriotismus. »Andere Nationen werfen uns ohnehin vor, nicht selbstbewusst aufzutreten«, weiß Seberich von seinen Auslandsaufenthalten.
Der Fußball verstärke die Tendenz in Deutschland, sich auf Symbole zu besinnen. Seberich: »Bei Schulfeiern wird über Werte diskutiert, die Anerkennung der Staatsbürgerschaft wird immer förmlicher, und die Auseinandersetzung mit Helden und Idolen nimmt zu.« Vielleicht habe Deutschland bald wieder politische Helden, die für Demokratie stehen. Amerika habe seinen Martin-Luther-King-Tag, Kanada seinen Fahnentag.
Der Gedanke an ähnliche Verhältnisse hierzulande sorgt bei manchen Deutschen für ein ungutes Gefühl. Das hängt mit dem historischen Erbe zusammen: Die Geschichte des Patriotismus begann spät und endete grausam in Hitlers Völkermord; Deutschland fand nach dem Intermezzo von 1848 erst nach der Reichsgründung 1871 zu nationaler Einheit, und prompt konnte es damit nicht umgehen. Statt den Gedanken der Nation mit einer demokratischen Grundordnung zu verbinden, prägten Militarismus und Untertanengeist den Staat, der den Ersten Weltkrieg mitverschuldete und den Zweiten Weltkrieg auslöste.
Für die Generation nach 1945 war Nationalismus über Jahrzehnte tabu. Der Stolz auf die Heimat suchte sich andere Felder als die Politik: Es waren erfolgreiche Automobile wie der »Golf« und Kinofilme wie »Irgendwo in Afrika« und »Good-bye Lenin«, die die Lücke füllten.
Im Juni 2006 ist es die Fußballweltmeisterschaft, die stolz macht. Die zahlreichen Flaggen und euphorischen Siegesfeiern der deutschen Fans sind auch nach Überzeugung des Bielefelder Historikers Hans-Ulrich Wehler kein Indiz für einen neuen Nationalismus. »Das Phänomen besteht darin, dass der Sport, weil er mit Nationalfarben und einer Nationalmannschaft operiert, einen Ersatznationalismus hervorruft«, glaubt Wehler. Selbst das »Wunder von Bern« 1954 habe weniger den Stolz auf Deutschland als vielmehr den auf die Leistung der Mannschaft zur Folge gehabt.
Das Phänomen aber muss ja gar nicht auf dem nationalen Podest stehen. Dann ist das Turnier nur eine riesige Party. In der WM fallen Urlaub und Karneval in eins: Wir wollen uns jetzt nicht über Fragebögen für Migranten, Ausländerrandale an Schulen und Gewalt gegen Ausländer ärgern.
Die Probleme sind vertagt, wir amüsieren uns auf sicherem Terrain. Wie bei der WM-Eröffnungsfeier, in der nichts Gesamtdeutsches zu sehen war. Dafür jede Menge Bayerisches. Denn es mag noch so viel Schwarz-Rot-Gold von Autodächern und Balkonen wehen - eines nur ist unstrittig: Deutschland ist der Schuhplattler in der Lederhose. So nimmt uns das Ausland wahr, so liebt es uns, und so präsentieren wir uns unseren Gästen ganz ohne Arg.
Von deutschem Boden darf nie wieder Nabelschau ausgehen. Jedenfalls nicht bis zum Fiiiinale, ohoho, ho.
Wäre es anders, bräuchte es die aktuelle Schau im Historischen Museum zu Berlin nicht. Wie sie heißt? Na klar: »Was ist deutsch?« Wir wissen es eben nicht, und auch Poldi, Schweini und Klinsi bleiben uns die Antwort schuldig.
Kommt und lasst uns fröhlich sein, jetzt, da der Kaiser uns Gäste eingeladen hat. Volksgaudi. Die ist nicht dumpf. Die ist nicht national. Die ist bloß schwarz-rot-gold.

Artikel vom 20.06.2006